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Doch nicht so ernst gemeint

State of Affairs, Thalia Foto: Krafft Angerer

Ja, die Lage ist denkbar ernst. Da müssen sogar Wesen aus der Zukunft sich die Mühe machen, in die Gegenwart zu reisen. Auf die Fadenvorhänge projiziert werden die in die Zukunft gemorphten Gesichter der Schauspieler:innen. Um den Menschen auf der Erde noch eine Überlebenschance zu gewähren, haben sich Leute aus der Zukunft aufgemacht, um ihnen zu helfen. Gerade das Team des Thalia Theaters hätten sie auserkoren, um ihre Botschaft unters Volk zu senden, so berichtet dann die Vierercrew (Maja Beckmann, Nils Kahnwald, Tim Porath, André Szymanski.) in neutraler schwarzer Kleidung auf der Bühne, bevor sich der Vorhang hebt. Das Thaliaensemble solle das gerade geprobte Stück "State of Affairs" (übersetzt: "Staatsgeschäfte" oder auch "Lage der Dinge") umändern, um die Zuschauer:innen aufzurütteln.
Zugegeben, schwierige Aufgabe, zumal die umgeschriebenen Szenen nur vereinzelt hereinflattern und dann noch auch in verkehrter Reihenfolge. Doch nicht nur das ist ein Problem, sondern auch dass diese Theaterleute auf der Bühne eben auch nur Menschen sind. Sie sind bald mehr mit ihren Eitelkeiten und mit den Hierarchien beschäftigt, als mit den zu verkündenden Botschaften. Wer spielt die Hauptrolle, wer führt Regie, wer hatte mit wem ein Verhältnis und wer spielt die Stehlampe? Das sind eigentlich mehr die Fragen, die sie beschäftigen. Weniger die nach der Zukunft der Menschheit.
Doch auch die Szenen, die zu spielen sind, machen die Aufgabe nicht einfacher. Ein Zeitreisender in Krankenhaushemd besucht einen Schriftsteller, um dessen neustes Buch zu verändern, damit es die Zwietracht unter den Menschen nicht noch vergrößere sondern helfe den dritten Weltkrieg zu verhindern. Dann würde der Schriftsteller zwar durch einen Bombenanschlag sterben, aber zu Weltruhm gelangen. Gerade sein Tod würde ihn unsterblich werden lassen. Unlogisch und dennoch verführerisch, wie auch seine Verlegerin findet. Als Belege führt der Zeitreisende dann ein paar seiner bisher vergeblichen Versuche heran, andere Geistesgrößen zu friedlicheren Botschaften zu animieren. Marx davon zu überzeugen statt "Proletarier aller Länder vereinigt euch", "Proletarier, macht mal eine Pause" zu schreiben, sei gescheitert. Schließlich fällt ihm tatsächlich ein Beispiel ein, wo er einmal Erfolg gehabt hat: Den britischen Schriftsteller und Soldaten Siegfried Sassoon konnte er überzeugen, eine Erklärung gegen den Krieg zu verfassen. Als Nils Kahnwald diese Erklärung ohne jeden Anflug von Ironie auf der Bühne verliest, bekommt das Stück zum ersten Mal eine Tiefe, die bisher in der ganzen Über- und Unterfütterung mit zig Ironieebenen verloren ging. Zumal diese Erklärung ohne die Nennung des betreffenden Zeitraumes auch für heutige Kriege gelten könnte.
Doch danach stürzt sich das Stück wieder munter hinein in die kunterbunte, aber belanglose Welt der selbstgefälligen und gefallsüchtigen Kleinmenschen. Mit ihren Reste-Streifenstrickschals, türkisen Pudelmützen, gelben Mänteln, engen Reißverschlusskostümen, Schlaghosen und grellbunten Hemden, alles wie aus einem Neuköllner Vintageladen: trashig, um Aufmerksamkeit heischend und doch rührend hilflos. Keiner hat einen Plan, alle sind nur an ihrem eigenen Wohlergehen interessiert. So wuselt sich das Stück auf der Bühne zwischen den Fadenvorhängen (kongeniales Bühnenbild: Evi Bauer), die wie von Geisterhand auf und zu gezogen werden und immer wieder neue Räume erzeugen, hindurch. Scheinbar ohne jedes Ziel, wie die Schauspieler natürlich auch irgendwann mal mit Augenzwinkern im Seitensprech selbstironisch bemerken.
Doch dann zum Schluss blicken die Zuschauer:innen wieder in die ernsten auf die Fadenvorhänge projizierten Gesichter aus der Zukunft. Und die haben einen klaren Auftrag an sie: Einer oder eine unter ihnen soll jetzt hinausgehen, um etwas zu tun gegen die grassierende Entzweiung der Menschen. Schließlich habe er oder sie dieses Stück gesehen und verspüre genau jetzt diesen Auftrag ganz deutlich. Aha, die Verantwortung liegt nicht etwa bei der Politik, nicht bei den Kulturschaffenden, nicht bei der Wirtschaft, nicht bei den Wissenschaftlern, sondern bei jedem einzelnen von uns.
Klar, die Fallhöhe musste hoch sein bei diesem Stück. Doch in diesem Fall vielleicht zu hoch. Denn zwischen dem heiligen Ernst dieses Auftrages und dem Klamauk, der zwischendurch auf der Bühne veranstaltet wird, klafft eine so große Lücke, dass man zwar total amüsiert aber keineswegs angerührt das Theater verlässt. Regisseurin Yael Ronen macht damit deutlich: Auch sie nimmt den Auftrag an die Kulturinstitutionen keineswegs so ernst, das Bildungsbürgertum zu besseren Menschen zu machen, wie sie es hier vorgibt. Beziehungsweise kann sie anscheinend in keinem Moment daran glauben, dass sie dazu in der Lage wären. Sie tut zwar so, als wenn sie deutliche Botschaften hätte, aber konterkariert sie dann durch ihr Tun auf der Bühne, das genau so selbstverliebt, egoistisch und kleinkariert wie das aller anderen ist, die sie angeblich mit wohlfeilen Appellen beeinflussen wollte. Doch: Kein Gandhi in Sicht. Das ist eigentlich die desillusionierende Botschaft dieses Stückes, auch wenn es mit seiner Eingangs- und Schlussszene kurz mal so tat, als könnte es anders sein.
Birgit Schmalmack vom 16.5.24