Schrecklich amüsant, aber in Zukunft ohne mich, Th
Bernd Grawert ist dieser Passagier auf der Nadir, dem weißen Schiff, das so wirkt, als sei es gerade aus der Kochwäsche gezogen worden. Er nutzt den Ballsaal des Thalia in der Gaußstraße voll aus, um von seinen Tagen unter den Celebreties zu erzählen. Er jagt die Showtreppe hinauf, um oben von Deck auf das Wasser zu schauen. Er setzt sich zwischen die Zuschauer:innen, um mit ihnen in Kontakt zu treten. Er nimmt Platz an der Bar, um von einem Gottesdienstbesuch zu erzählen, der auch auf der Nadir in der Bar stattfand. Er setzt sich ans Klavier, um von der Befriedigung („Satisfaction“) zu singen. Er tanzt auf der Bühne, um das abendliche Showprogramm zu illustrieren. Er gibt dem kritischen und erschreckend ehrlichen Kreuzfahrtfahrer in David Foster Wallace Essay Stimme, Gesicht und Körper. Es bringt ihm sichtlich Spaß alle Facetten dieses Mannes und von weiteren Prototypen unter den Passagieren darzustellen, denn er ist ein Komödiant, der das Abgründige zu schätzen weiß.
Ocean cage, Kampnagel
Der dramaturgische Höhepunkt in dem sich fließend, intuitiv und meditativ entwickelnden Abend ist das Auftauchen eines lebensgroßen Pottwals, der sich von der Decke entfaltet. Er schwimmt in wiegenden Bewegungen durch die Halle, direkt vor den Zuschauenden. Wie der kleine Mensch Siko mit ihm in Kontakt zu treten versucht, macht die Gefährlichkeit dieser Begegnung deutlich. Doch der Tänzer wird seinen zunächst erhobenen Speer sinken lassen und darauf verzichten, das Tier zu töten. Stattdessen schreitet er dem Gott der Sonne entgegen und betet ihn an. Dieser Abend widmet sich dem Gefühl. Wer sich auf diese ganz andere Vorstellungswelt einlassen mochte, ging um eine Erfahrung reicher aus der K6 und musste sich selbst der Frage stellen, wie weit der herablassende westliche Blick gerechtfertigt ist.
A PLACE CALLED HOME, Kampnagel
So erschuf Monique Smith-McDowell zusammen mit ihren herausragenden Tänzer:innen Alessia Vinotto, Isidora Soto Frias, Anam (Lukas) Lubisia, Virendra Nishad und ihrem „Philosophen der Hoffnung“ Zwoisy Mears-Clarke eine vielschichtige, ausdrucksstarke und gefühlvolle Choreographie, die die Bedeutung von Heimat jenseits von jeder unsäglichen Leitkulturdiskussion in hoffnungsvolle Bilder und Worte übersetzt. (Foto: Andreas Schmidt)
Der eigene Tod, DSH
Péter Nádas hat nach einem selbst erlebten Herzinfarkt sein Schweben zwischen Leben und Tod akribisch beschreiben und analysiert. Er betritt quasi stellvertretend für seine Leser:innen und hier auch im Malersaal für seine Zuschauer:innen ein Land, aus dem es normalerweise keine Rückkehr gibt. Doch dieser Reisende in dieses Zwischenreich zwischen Leben und Tod kann eine seltene Zeugenschaft vorlegen und stellt sich dieser Aufgabe mit größter Genauigkeit. Er beschreibt minutiös seinen Zustand des einerseits schwindenden Bewusstseins und andererseits gesteigerter Wahrnehmung in allen Details. Regisseur András Dömötör folgt seinem Essay mit ebenso viel Anteilnahme, Präzision und Unaufgeregtheit.
Blue Skies, Thalia
Bosse wollte wohl keine allzu deprimierende Arbeit an den Anfang der neuen Spielzeit stellen. Es ist ihm gelungen. Wenn das überlange Stück auf dem Spielplan steht, ist das Theater ausverkauft und das Publikum am Schluss über den sehr unterhaltsamen Abend begeistert, der nie mit moralisierenden Aufrufen zu Veränderungen nervte. Und das ist bei diesem Thema auch eine Leistung. Vielleicht könnte er sogar durch die menschliche Absurdität, die uns auf der Bühne vorgeführt wird, mehr bewirken als all die gutmenschelnden Ermahnungen, die sonst zu hören und zu sehen sind und doch bisher völlig wirkungslos geblieben sind. Sind wir wirklich so hohl, kopflos und ferngesteuert wie diese Wesen auf der Bühne? Sollten dies Vertreter der homo sapiens sein?
Geschwister, Gorki
Das vermeintliche Lernen aus der deutschen Geschichte hat nur oberflächlich stattgefunden. In den meisten Familien wurde stattdessen das Vergessen und das Verschweigen perfektioniert. Die Kontinuität der Täterschaft ist ungebrochen. Das ist die dringliche Botschaft dieses Abends. Dafür braucht es kein Einfühlen in die einzelnen Familiengeschichten und kein tieferes Verständnis für die persönlichen Biographien. Mondtag erzählt hier nicht vorrangig eine konkrete Familiengeschichte sondern liefert Versatzstücke von vielen bekannten Biographien, die sich im Kopf des Zuschauers zu einer zusammensetzen, ohne aber die Details dieser speziellen Familie mit Leben zu füllen. Diese bewusst von Mondtag gelassenen Leerstellen sind unwichtig, denn auch wenn deren Kinder oder Enkel zahlreiche Aufarbeitungsversuche unternommen haben, haben sie doch nichts verhindert.
Der Apfelgarten, Thalia
Der Stoff kommt einem bekannt vor. Tschechows Kirschgarten lässt grüßen. Die Bestsellerautorin Dörte Hansen hat ihn eben mal von Russland von vor hundert Jahren in die Jetztzeit ins Alte Land verlegt. Regisseur Antu Romero Nunes bürstet die Personen ziemlich gegen den Strich und lässt sie so weit am Abgrund tänzeln, dass man nicht denken muss, man säße ein paar Häuser weiter im Ohnsorg Theater, wo gerade Hansens "Alte Land" läuft. Bei ihm treffen jetzt nicht nur Arm und Reich, nicht nur Provinzler auf Städter, nicht nur Arbeiter auf Bourgoise sondern auch Vergnügungssüchtige auf Bodenständige und Verdränger auf Erleidende. (Foto: Krafft Angerer)
Linkerhand, Gorki
So durchmisst dieser Abend eine riesige Bandbreite an aktuellen Themen, in einer Geschwindigkeit, die schwindlig machen kann. Wie wollen wir leben? Wie stark bestimmen die Lebens- und Wohnverhältnisse unser Denken und Handeln? Wie gelingt Transformation? Wie demokratisch kann sie sein? Kann es eine wahrhaft zivilisierte Stadt, die keinen ausschließt, geben? Wie würde sie aussehen? Dass sich dieser Abend ganz auf diese politischen Fragen konzentriert und sich keinen Ausweg in die Romantisierung erlaubt, ist eine mutige und schlüssige Entscheidung. Dass dennoch der Gefühlshaushalt der drei Franziskas nachfühlbar wird, liegt auch an den drei Darstellerinnen, die es schaffen, zugleich Energie, Stärke, Durchsetzungskraft aber auch Enttäuschung, Sehnsucht und Traurigkeit auszudrücken. Diesen authentisch agierenden Frauen stellt Baumgartner ein großes Arsenal an Männer-Abziehbildern gegenüber, die in ihrer Klischierung zu Statisten in Franziskas Leben werden. (© Ute Langkafel MAIFOTO)
Im Menschen muss alles herrlich sein, Gorki
Dieser Abend ist einer der Nicht-Beziehungen, der Nicht-Kommunikation. Die Frauen reden nur mit dem Publikum, versuchen ihm und sich selbst ihre Geschichten zu erklären. Doch sie rasen so getrieben von ihren unerfüllten Vorstellungen, Erwartungen und Sehnsüchten durch das Stück, dass es auch im Zuhören schwer fällt, zu ihnen Kontakt aufzunehmen. Ihre abgeschnittenen Emotionen schaffen es kaum über die Rampe. Der Mensch ist eben erst ein Mensch in seinem Gegenüber, fehlt ihm dieses, so bleibt er unverbunden und seine Entwicklungsmöglichkeiten stark begrenzt. Das ist die eigentliche schmerzliche Leerstelle, die in dieser Inszenierung überdeutlich wird.
Post Daddies, Heimathafen
Auch an diesem Abend, den der Regisseur Konstantin Achmed Bürger mit den Performern Ariel Nil Levi und Naomi Meiri und dem Musiker Henri Maximilian Jakobs zusammen entwickelt hat, mischen sich die vielfältigen Perspektiven, Bezüge, Ebenen, Geschichten, Ansichten und Aspekte ständig. Es ist faszinierend den beiden Theaterprofis dabei zuzusehen, wie sie in Sekundenschnelle von einer Haltung zur nächsten, von einer Szene zur nächsten, von einem Spielton in den nächsten springen können. So ist es weit mehr als ein humoristischer Selbsterkundungsabend älterer Queer-Daddies geworden. Hier werden en passant und wie zufällig so viele Themen so differenziert angesprochen, dass am Ende bewiesen sein dürfte, dass sich in diesen „wunderschönen Körpertempeln“, wie der Ankündigungstext sie beschreibt, tatsächlich so viele geistige Muskeln verbergen, dass sie um soviel attraktiver sind als die Six-Packs vom Beginn.(Foto: Verena Eidel)
Alice im Wunderland, Gorki
Irgendwann fällt der Satz: Die Suche nach einer kohärenten Geschichte sei vergeblich. Das trifft auch auf den gesamten Abend zu. Doch das sollte bei einer Fantasieerzählung wie der von Carroll, die dieser direkt im Reich der Träume ansiedelt, auch erlaubt sein. Wenn Frljic seine Vergleiche zu real existierenden Zuständen im hiesigen „Wunderland“ überstrapaziert, um auch ja verstanden zu werden, erscheint das fast verständlich angesichts der momentanen politischen Diskurse, die immer krassere Formen annehmen.
Muttersprache Mameloschn, Gorki
Die Neuinszenierung des Stückes auf der großen Bühne des Gorki über zehn Jahre nach seiner Erstaufführung hat ihm nichts an seiner Pointiertheit und Aktualität genommen. Ganz im Gegenteil: Wenn heute von einem Überfall auf Israel an John-Kippur gesprochen wird, wenn der Umgang mit Antisemitismus in dem antifaschistischen Staatssystem der DDR und dem Schweigen in der Familie über die eigenen Verstrickungen in den Systemen thematisiert wird, scheinen die Fragen noch dringlicher geworden zu sein.(© Ute Langkafel MAIFOTO)
Die Kameliendame, BE
Die Erwartung speziell an Frauen, selbst im Tod eine gute Performance hinzulegen, zumal auf der Bühne, wird in dieser Inszenierung mit viel Humor hinterfragt. Ebenso die Vorurteile, dass doch Kranke selbst Schuld an ihrer Krankheit seien, weil sie einfach einen schlechten Lebensstil pflegten. Nur damit man sich der zu Beginn zitierten Tatsache nicht stellen muss und sich noch eine Zeit lang in Sicherheit wiegen kann, man würde von dieser Unausweichlichkeit verschont bleiben, weil man eben alles richtig macht und auf Dauer Staatsbürger:in im Land der Gesunden bleiben wird. © Moritz Haase
Gesetze schreddern, Malersaal
Kevin Rittberger spürt mit seinem Stück, bei dem er auch Regie führt, den Möglichkeiten zur Verarbeitung der Zukunft nach. Während das Bühnenbild, das sich bis ins Foyer erstreckt, in vereinnahmender Düsternis von all den schon ausgestorbenen Tieren erzählt, die die Menschen schon ausgerottet haben, richtet er mit seinen beiden Schauspieler:innen Ute Hannig und Samuel Weiss den Blick auf die Chancen der Veränderung. Er lädt zu einem Gedankenspiel ein, das die Beiden stellvertretend auf der Bühne für die Zuschauer:innen ausfechten. Können Tiere, Landschaften und Ökosysteme zu eigenständigen Rechtspersonen werden? Müssen wir dafür zunächst ihre Sprache verstehen oder können wir als Menschen aus unserer Perspektive für sie sprechen? Kann der Kapitalismus dabei helfen, ihren Wert zu erkennen? Wird uns je die Wichtigkeit ihres Überlebens bewusst werden? Oder erst wenn es zu spät ist, wie der Bühnenraum es uns ausmalt? Ein theatraler Anregungsabend, der im Rahmen der größeren Reihe »Realnische 0« im Malersaal zur tätigen Gestaltung unserer Zukunft einlädt.
Yol oder ein Zebrastreifen geht Sonne suchen, Thal
Eine melancholische Atmosphäre durchzieht diesen Abend, aber durchdrungen von dem ständigen Versuch, sich gegen alle Widerstände zu verknüpfen. Auch wenn Nina zum Schluss alleine in den Schatten der Gaußhöfe verschwindet, ist man sich insgeheim sicher, dass die Drei auch danach noch den Kontakt zueinander suchen werden. Ihre Sehnsucht nach Verbindung und Unterstützung wird nicht aufhören. Eine kleine Botschaft der Hoffnung in Zeiten der Zersplitterung und Fragmentierung im heutigen Deutschland.(Foto: Fabian Hammerl)
hamburgtheater