Verwischung der Grenze zwischen Maschine u.Mensch
Helena (38), Michaela (29) oder Daniela (28), so heißt Melanie Sien Min Lyn auf der Online-Platform "Singlesnearyou". Hier erfindet sie ihre Identitätsstories speziell für die Michaels dieser Welt. Sie gaukelt ihnen eine Intimität vor, um ihre Wünschen nach Aufmerksamkeit, Nähe und Sex zu bedienen. Die Männer bezahlen und sie verdient pro Minute, die die Kunden auf der Plattform bleiben. Doch während sie weiß, dass alles eine große Illusion ist, ahnen die Männer das meist nicht. Ist das ethisch bedenklich? Nur selten überkommen Melanie da Zweifel.
Aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen als Jobberin auf einer ähnlichen Plattform hat die Künstlerin Melanie Sien Min Lyn eine Performance entwickelt. Doch dabei interessieren sie weniger die moralischen Fragen bezüglich der Arbeit als vielmehr die Verwischung der Grenzen zwischen der Maschine und des Menschlichen. Zwischen der virtuellen Bilderwelt und der tatsächlichen Realität. Zwischen der Veränderungen der Körperbilder durch Programme und der eigenen Identität in der realen Welt. Welcher Wert kommt noch der realen Beziehung zu, wenn sie jederzeit gefakt werden kann? Spielt es überhaupt noch eine Rolle, wenn die Gefühle bei der vorgespielten Realität doch real sind? Das erfuhr Melanie selbst, als sie einmal ihre Schicht nicht in ihrem Bett sondern in einem Cafe machte und eine Freundin ihr mitteilte, dass sich auf ihrem Gesicht während ihrer Arbeit am Laptop eine Vielzahl an Emotionen ablesen ließen. Auch sie selbst, die ja wusste, dass alles vorgegaukelt ist, offenbarte Gefühle. Um wie viel mehr wird das der Fall bei den Männern auf der anderen Seite sein?
Die Männer verlangen immer sehr schnell nach Fotos. Dafür stehen den Chatarbeiterinnen Fotopakete ungewisser Herkunft für die einzelnen Identitäten zur Verfügung, auch als Nacktbilder. Doch mittlerweile gibt es Programme, die existierende Fotos von bekleideten Frauen in eine imaginierte nackte Person verwandeln. Wie wird die Zukunft von Beziehungen in Zeiten von immer besser werdender KI aussehen? Wie werden sich die Selbst- und Fremdwahrnehmung verändern? Wie wird sich das auf die Beziehungen im direkten Kontakt auswirken? Das alles wird in dieser Performance angerissen. Auch dadurch, dass Melanie sich während des Abends von einer KI-Version ihrer selbst in einem Artist Talk befragen lässt. So lassen sich Selbstgespräche auch führen. Wozu braucht man dann noch tatsächlich ein reales Gegenüber? Da ist die Begegnung in einem Theatersaal eine gute Gelegenheit die Vorzüge der direkten Kontakte zu erleben. Wie hier im Berliner Ringtheater.
Birgit Schmalmack vom 1.11.23