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Nie gewagte Erhlichkeit

Ein Mann, eine Frau, beide im Herbst ihres Lebens, treffen sich auf der blauen Route. Sie haben sich die schwierigste längste Wandertour durch eine nicht näher spezifizierte Landschaft ausgesucht, denn sie haben einiges für sich zu durchdenken. An einer Bank treffen sie aufeinander, ausgerechnet. Beide wollten sich ausruhen, nun ist sie besetzt. Unwillig rutscht die Frau zur Seite. Widerwillig lassen sie sich auf ein Gespräch ein. Zögerlich tröpfeln Fragen und Antworten hin und her. Von sich etwas preisgeben wollen sie beide nichts..

Die Frau trägt weiße Bluse und Perlenkette, der Mann einen verschlissenen beigen Baumwollanzug zu verwaschenem T-Shirt über sich weit nach vorne wölbenden Bauch. Sie will sich ein anscheinend ein feines Auftreten geben, er dagegen sieht sich gerne als lässigen Typ. Der Mann gibt sich extrovertiert, provoziert gerne, macht hin und wieder einen Joke. Die Frau dagegen wirkt ernst, verschlossen, in sich gekehrt, abweisend.

Es wird nicht das letzte Mal sein, dass sie sich treffen. Bei jeder weiteren Bank begegnen sie sich wieder, schließlich gehen sie ein Stück des Weges zusammen. Allmählich kitzelt der Mann einige Informationen aus der Frau heraus. Sie ist auf dem Weg ins Krankenhaus der nächst größeren Stadt. Sie soll sich heute das Ergebnis einer Untersuchung abholen. Sie fürchtet, dass die Diagnose Krebs sein könnte. Er erzählt, dass er Kabarettist sei. Als er von einem Kollegen berichtet, den er im nahe gelegenen Ferienpark getroffen hätte, wie der in einem Bärenkostüm Luftballonfiguren geknotet habe, ahnt sie schon, dass er von sich selbst spricht.

Das kluge Stück von Ger Thijs lässt den beiden Personen, die sich hier wider Willen näher kommen, ihre Geheimnisse und zwar bis zum Schluss. So wenig wie sie sich gegenseitig ganz in die Karten gucken lassen, so wenig geben sie auch dem Publikum vollen Einblick. Was mit seiner Frau passiert ist, die er immer wieder erwähnt, bleibt offen. Ebenso ob sie nun wirklich eine Apotheke besaß oder, wie er vermutet, nur eine Drogerieangestellte war. Auch ob er sich wirklich umbringen wollte und sie sich tatsächlich überlegte, mit ihm zu verschwinden, bleibt der Fantasie der Zuschauer:innen überlassen.

Wie viel Ehrlichkeit aber gerade zwischen Fremden möglich sein kann, die sich Dinge beichten, die sie sich bis dahin vielleicht nicht einmal selbst zugestanden haben, zeigt dieses Kammerspiel. Anton Pleva hat es zwischen vielen Topfpflanzen auf der Bühne des Sprechwerks mit großer Sensibilität und zwei tollen Schauspielern inszeniert. Jasmin Buterfas gibt die nicht nur zu anderen streng auftretende Frau, die dadurch ihre eigene Unsicherheit verbergen möchte, sehr überzeugend. Stephan Benson zeigt den widersprüchlichen Charakter des Mannes, der zwischen Depression und Lebensübermut changiert, in jeder Nuance so schillernd, dass man versteht, dass er sich selbst ein Rätsel bleiben will. Benson gelingt es, diesen Künstler, der sein eigenen Leben spielt, bis in die kleinste Geste und Mimik perfekt zu verkörpern. Ein bereicherndes Stück im Rahmen der Wortgefechte auf der Bühne des Sprechwerks.

Birgit Schmalmack vom 24.12.24




Der Kuss, Sprechwerk G2 Baraniak


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Winterreise, Lichthof