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Mehr als nur spannend

Dr. Jekyll will nicht einfach nur wie sein Freund und Studienkollege Archie (Patrick Michel) ein guter Mediziner sein. Das reicht ihm nicht. Ihn treibt eine Forscherneugier in seinem Labor zu nächtelangen Studien an. Er will die Grenze zwischen Gut und Böse, zwischen Wahrheit und Lüge erkunden. Endlich scheint sein zusammengebrautes Elixier gelungen zu sein. Er wagt das Selbstexperiment, obwohl er um das Risiko weiß. Ab diesem Zeitpunkt wird nichts mehr so sein wie zuvor. Seine Verlobung mit seiner geliebten Agnes (Jenny Klippel) wird aufgelöst werden, seine Stellung in der Gesellschaft gerät ins Wanken, er wird von der Polizei gesucht. Denn ab diesem Zeitpunkt gibt es ihn zweimal: Einmal als rechtschaffenen Arzt, der seine Patienten auch umsonst behandelt, und als gewalttätiges Menschenmonster, das insgesamt drei Menschen ermordet. Der Bösewicht Hyde ist geboren und offenbart ab jetzt die böse Seite des nach außen hin so guten Jekyll. Jekylls Verwandlung in Hyde geschieht auf der Bühne oft in Sekundenschnelle. Jekyll bekommt vorstehende Zähne, dunkle Augen und wirre Haare und schon ist aus dem gut aussehenden, sympathischen Mann das von allen gefürchtete Monster geworden. Christian Richard Bauer gelingt diese Verwandlung in jeder Hinsicht glaubwürdig. Mimik, Motorik und Stimmlage wechselt er blitzschnell.
Der Kriminalfall "Jekyll und Hyde", den der Autor Robert Stevenson ersonnen hat, ist nicht nur ein spannendes Drama, sondern berührt ganz nebenbei ein paar philosophische und gesellschaftliche Fragen. Sind die guten und schlechten Anteilen der menschlichen Natur wirklich so streng voneinander getrennt, wie man gerne glauben möchte? En passant wird auch das Thema Gewalt in Beziehung thematisiert und ohne großes Aufhebens klargemacht, warum Frauen dennoch sich aus dieser Zwangsituation nicht lösen können. Zudem stellen sich die Menschen in Jekylls Umgebung im Laufe des Abends immer wieder an die Rampe und fragen sich, ob sie dieses Unglück hätten verhindern können, wenn sie früher eingeschritten wären. Und sie attestieren sich meist sofort ihre Unschuld. Das Schicksal hätte wohl auch so seinen Lauf genommen.
Wieder einmal hat es das Imperial Theater verstanden, einen Krimiklassiker wunderbar genau und detailreich auf die Bühne zu bringen. Mit der Bühnenausstattung, für die der Regisseur Frank Thannhäuser verantwortlich ist, hat er zudem ein Wunderwerk der schnellen und überraschenden Verwandlung erschaffen. Mit wenigen Handgriffen erscheinen die verschiedenen Salons, Straßenzüge und Hinterhöfe auf der Bühne. Hier werden zwei Straßenlaternen ausgeklappt, hier ein Vorhang vorgezogen, hier durch die Drehung eines Bühnenelements eine bisher unsichtbare Tür kreiert. Auch die Licht- und Musikregie fügt sich hier passgenau in das Gesamtarrangement ein: Grünes Licht kündigt die Verwandlung in Hyde an, warmes rotes Licht dagegen die Rückkehr von Jekyll. Wenn es gruselig oder dramatisch wird, bereitet die Musik geschickt darauf vor.
So gibt es hier zur Spannung bis zur letzten Minute auch noch ein paar Fragen zum Weiterdenken gratis obendrauf: Wie weit kann und sollte der Erkenntnisdrang des Menschen gehen? Wie weit kann der Mensch eine eigenen Erfindungen kontrollieren? Existiert eine klare Trennung von Gut und Böse überhaupt? Insgesamt ein sehr gelungener und lohnender Abend im Imperial Theater.
Birgit Schmalmack vom 30.12.24




Jekyll und Hyde, Imperial © Oliver Fantitsch


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