Textversion 

Der Mut zum Scheitern

Zaghaft gucken die Männer um die Ecke, bevor sie den Bühnenraum betreten. Simon Geuchen wagt sich als erster vor. Er gibt im wahrsten Sinne den Ton vor. Mit leiser, noch schüchterner Stimme stimmt er ein Lied aus der "Winterreise" von Schubert an. Ohne Requisiten, mitten auf der leeren Bühne. Genauso werden es die anderen (Felix Scheer, Jasper Tibbe) ihm nachtun, nachdem er sich an seine zweieinhalb Tasteninstrumente an der Seite gesetzt hat. Einer nach dem anderen stellt sich in die Mitte direkt vor das Publikum und singt ein Lied aus Schuberts Liederzyklus. Zitterig sind ihre Stimmen, nicht immer treffen sie die ganz richtigen Töne. Dann ist Dennis Dieter Kopp dran. Doch er versteckt sich lieber unter seinem Mantel. Nein, Karaoke mochte er noch nie und singen erst recht nicht. Er werde die Lieder nur sprechen. Also berichtet er lieber von der Krähe, die um seinen Kopf kreist.

Also, worum geht es den Vieren von Thermoboy FK hier auf der Bühne? Das erklären sie lieber ein paar mal ganz direkt, während sie in enger Viererformation neben den Tasteninstrumenten stehen, so als wenn sie gegenseitig Schutz geben müssten: Sie wollen den Wald der Scham, den Fluss der eingefrorenen Sehnsüchte und die unerkannten Täler der sexuellen Begierden erkunden. Es könnte kalt werden auf ihrem Weg. Die Winterreise ist für sie eine, auf der sie sich ihrer Verletzlichkeit und ihrer Schwächen stellen wollen. Dafür machen sie sich in jeder Sekunde ihres Tuns angreifbar. Sie spielen mit ihren Unzulänglichkeiten. Dazu rollen sie große bunte Teppiche aus, die sonnenuntergangsrote Aussichten und bunt bewachsene Landschaften darstellen sollen, über sie sich gemeinsam bewegen.

Sie feiern den Dilettantismus, um sich ihrer Fragilität zu stellen. Schuberts gefühlsvolle Winterreise ist ein musikalisch äußerst anspruchsvolles Ausgangsmaterial. Es legt die Messlatte so hoch, dass sie sie reißen müssen. Sie reduzieren bewusst ihre darstellerischen Möglichkeiten, um dem Konstrukt der männlichen Stärke etwas entgegen zu setzen. Sie wollen sie gezielt hinterfragen und dekonstruieren, indem sie sich in die dunklen, einsamen Täler ihrer Männlichkeit begeben und auch schon mal darauf ausrutschen. Selbst ihre Selbstironie kommt dezent daher. Nur das kleine Lächeln um die Mundwinkel von Kopp muss reichen, um ihre Haltung zu dieser Winterreise anzudeuten. Warum sie sich diesem aussetzen, wird einem wohlmöglich erst im Nachherein klar. Doch dann stellt sich ein Gefühl der Anerkennung für diesen großen Mut, der so klein daherkommt, ein. Denn er ist eine Seltenheit auf deutschen Bühnen.

Birgit Schmalmack vom 22.12.24




Winterreise, Lichthof Foto: Lea Geub


Druckbare Version


Der Kuss, Sprechwerk
Bernarda Albas Haus, Schauspielhaus