Kaleidoskop der Erinnerungen
In dem Dorf in der ehemaligen DDR schloss erst die Bäckerei, dann die Post, zuletzt auch der Gasthof. Alle Häuser leer, die Fenster teilweise mit Spanplatten vernagelt. Das Dorf starb langsam, aber das kleine Mädchen lebte weiter. Mit ihren Eltern, die nichts erklären konnten, die selbst mit den Veränderungen überfordert waren. Von dieser Kindheitserfahrung blieb eines: ein Fremdeln gegenüber dem Westen, ein Hingezogensein zu den östlichen Teilen Europas, die ebenfalls Zeiten des Umbruch nach der Wende erlebten. Die Autorin und Performerin Franziska Jakobi versucht mit ihrem Team zu erkunden, wie es sich mit "Entrissenen Welten" lebt. Immer wieder blickt sie mit dem Musiker Mikhail Poliakov und der Tänzerin Finja Kelpe in die bunten Kaleidoskop-Lampen und versucht aus den Erinnerungsschnipsel, die zu ihnen herüber flattern, ein Verstehen erwachsen zu lassen. Dabei verknüpft sie nicht nur ihre eigenen Erfahrungen nach der Wende in der Ex-DDR mit denen ihrer Eltern und Großeltern nach dem Zweiten Weltkrieg, sondern auch die Gefühle der Ukrainer:innen nach ihren Flucht vor dem Angriffskrieg Russlands. Dokumentarische Fundstücke, Interviews, Schulbücher und Dias sind in das theatrale Bild der Ost-West-Geschichte mit eingeflossen.
Die locker auf den Holzstativen mit Wäscheklammern befestigte Gardine dient dabei zugleich als Paravent, Projektionsfläche oder Schattentheaterleinwand. Besonders berührend ist der Abend, wenn er persönlich wird. Wenn der Musiker von seinen Erfahrungen seit seiner Flucht aus Russland vor dem Krieg berichtet, verbindet sich Information mit Emotion. Auch, wenn die Stimmen von Ukraine-Geflüchteten vom Band ertönen. Und wenn Jakobi von ihren Kindheitserlebnissen erzählt. Wenn jedoch Teile der übrigen Gesprächs- und Augenzeugenbeiträge von den überall verstreuten Zettel und Karten abgelesen werden, stellt sich diese Unmittelbarkeit der Erfahrung nicht in gleicher Weise ein. Beeindruckend ist dagegen das intensive Zusammenspiel von Musiker und Tänzerin. Zum Beispiel wenn er sie mit seinem Akkordeon über die Bühne jagt, wird die Bedrohung der Überwachung durch den Staat nachfühlbar.
Jakobi macht kein Hehl daraus, dass sie keinen Anspruch auf Vollständigkeit oder gar Vergleichbarkeit der jeweiligen Umstände erhebt. Oder auf eine abschließende Beurteilung. Weder war im Osten alles wunderschön, wie die sowjetische Utopie eines gut versorgten, gleichgestellten Sowjetbürger verhieß, noch war mit dem Zusammenbruch der Sowjetunion und der Wiedervereinigung nun alles wieder gut. Das machte der Abend über schwere Themen auf spielerisch-leichte Art deutlich.
Birgit Schmalmack vom 20.6.24