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Gesamtkunstwerk mit Sogwirkung

Agamemnon, DSH © Birgit Hupfeld

AGAMEMMNON; DSH
https://www.sueddeutsche.de/kultur/ulrich-rasche-residenztheater-agamemnon-1.6316904?reduced=true
Gesamtkunstwerk mit Sogwirkung
Nur ein langer Tisch steht auf der leeren schwarzen Bühne. Auf ihm die Ausstattung für vier Musiker. Nachdem sie ihren Platz an den Perkussionsinstrumenten, Xylophonen und Laptops, eingenommen haben, beginnt sich die Bühne zu drehen. Das wird auch bis kurz vor Schluss so bleiben. Denn die Livemusik gehört ebenso so zu Regisseur Oliver Rasches Inszenierungsstil wie der sich stetig drehende Bühnenteller. Dass die Schauspieler:innen ständig in Bewegung bleiben müssen, ist Teil seiner Interpretation der Stoffe, die er sich vorknöpft. Für das Antikendrama Agamemnon eignet es sich ganz hervorragend, wie dieses Gastspiel des Münchner Residenztheaters im Rahmen des Theaterfestivals im Schauspielhaus bewies.
Der Chor marschiert beständig um den Musiktisch herum. Aus ihm schälen sich die verschiedenen handelnden Personen heraus und kehren gleichsam organisch in die Gemeinschaft zurück. Nur eine ist von Anfang an kein Teil von ihr: Klytaimnestra. Haben die Anderen transparente leichte Shirts zu schwarzen Beinkleidern an, so tritt sie in hochgeschlossenem Rollkragen zu schwarzer Hose auf, alles so eng anliegend wie ein Ganzkörperanzug. Ihr ganzer Körper drückt Tatkraft und Entschlossenheit aus. Eine Frau, die ihren eigenen Kopf hat. "Ich bin eine Frau, die denkt", so drückt sie es an einer Stelle aus. Noch hat sie uns nicht verraten, was sie umtreibt, doch am Schluss werden wir es überdeutlich miterleben.
Erst einmal aber setzt uns der Chor ins Bild: Griechenland scheint in Gefahr. König Agamemnon ist überzeugt, dass er ein Blutopfer bringen muss, um mit seinem Heer das angreifende Troja schlagen zu können. Er zögert nur kurz, als er erfährt, dass dieses Opfer seine geliebte Tochter Iphigenie sein soll. Doch es scheint sich gelohnt zu haben: Nach zehn Jahren kehrt er tatsächlich als Sieger über Troja zurück. Nur scheinbar empfängt ihn seine Frau Klytaimnestra mit offenem Armen voller Wiedersehensfreude. Insgeheim hat sie schon ganz andere Pläne geschmiedet.
Die Musik, die dem eindringlichen Spiel auf der Drehbühne beständig unterlegt ist, treibt es immer weiter voran. Untermalt es mal bedrohlich, mal zart, mal zornig, mal abwartend. Die Bewegungschoreographie und das Sprechen der Spieler:innen sind in jeder Sekunde voller Spannung. Ihre Körper scheinen vom Kopf bis zu den Zehenspitzen stets wie zum Abschuss bereit. Die Anspannung der Kriegsituation immer präsent. Die Gewalt hat sich in jede Faser ihrer Körper eingeschrieben. Der Herzschlag der Percussionisten lässt sie nie zur Ruhe kommen. Auch wenn der Trommelschlag einmal sanfter wird, scheint er nur die Ruhe vor dem nächsten Sturm zu verheißen. Keiner kann sich hier zu keiner Zeit sicher sein.
Diese Inszenierung kann niemanden, schon gar nicht in diesen Zeiten, in denen der Krieg auch uns in Europa wieder so nah gekommen ist, unberührt lassen. Denn sie setzt in jeder Hinsicht auf Emotionalität und entfaltet einen Sog, der in das Geschehen hineinzieht. Zwar ist schon der Text von Aischylos in der Übertragung von Walter Jens stark, aber erst in der Verbindung von der untergründigen Eindringlichkeit der Musik mit der Unbedingtheit der Sprecher:innen wird daraus ein Gesamtkunstwerk, das man so schnell nicht vergessen wird. Bisher das Highlight des diesjährigen Theaterfestivals. Aber es folgen ja noch fünf weitere Gastspiele, die Nikolaus Besch dieses Jahr ausgewählt hat.
Birgit Schmalmack vom 7.6.24