Im Herzen der Gewalt, Schaubühne © Arno Declair
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Zu Beginn wird ein Tatort abgesteckt, Fingerabdrücke genommen. Ein junger Mann im rosa Pullover (Laurenz Laufenberg) steht daneben und versucht Worte zu finden. Am Schluss wird er dort zwischen den Markierungen am Boden liegen. Wie tot. Doch er hat überlebt. Er hat sich seine Geschichte zurückerobert. Die Lüge wird ihn retten. Die Lüge, nicht traumatisiert zu sein. Er wird sie vor sich und den anderen so lange behaupten, bis sie wahr werden wird.
Nach einer Weihnachtsfeier mit seinen Pariser Freunden geht Edouard leicht beschwipst nach Hause. Auf der Straße spricht ihn ein hübscher Mann mit dunklen Haaren (Renato Schuch) an. Er flirtet mit Edouard ganz offensiv, bis der ihn mit nach Hause nimmt und sie miteinander ins Bett gehen. Als er aus der Dusche wieder zurück kommt, ist sein Handy und sein Tablet verschwunden. Als Reda sich des Diebstahls verdächtigt fühlt, rastet er von einem Moment zum nächsten aus. Er würgt, vergewaltigt und bedroht Edouard schließlich mit einer Pistole. Um danach zu verschwinden und wenig später um Verzeihung bittend an die Tür zu klopfen.
Edouard hat seine Schwester Clara (Alina Stiegler) schon seit zwei Jahren nicht mehr besucht. Denn ihn zieht eigentlich nichts mehr in die armselige Arbeiterkleinstadt, aus der er in die intellektuellen Kreise des großbürgerlichen Paris entflohen ist. Clara erkennt darin klar eine Überheblichkeit, die sie kränkt. Bis jetzt. Nach der Tatnacht will er Abstand zwischen sich und seiner Wohnung bringen. Und diese Frau im Minirock zu Leoparden-BH-Top, das ihre riesigen Brüste kaum halten kann und von der er sich so weit entfernt hat, gibt sich tatsächlich Mühe ihn zu verstehen, auch wenn es ihr schwerfällt. Er erzählt ihr den Horror der Liebesnacht– und belauscht wenig später, wie sie die Geschichte ihrem Ehemann weitererzählt und wie sie sie dabei in eine andere verwandelt. Der Autor Édouard Louis sagt dazu: "Die Konstruktion kann gerade ein Mittel sein, um die Wahrheit zu sagen.“ Doch das will er. Und so erzählt er den Ärzten, der Polizei und seiner Schwester von dieser Horrornacht. Jeder von ihnen hört eine andere Story. Bei jedem und jeder trifft seine Erzählung auf andere Haltungen, Vorurteile und Filter. Dabei droht Edouard seine eigene Erinnerung zu verlieren. Doch er braucht diese für seine Verarbeitung, für seine Wahrheit, für seine Heilung. Denn Edouard will sich den verschiedenen Zuschreibungen der anderen nicht beugen. Die Polizei interessiert nur die Formulierung "maghrebinischer Herkunft", das Klinikpersonal nur seine Verletzung und seine Schwester sieht vor allen Dingen seine abgehobene Vertrauensseligkeit als Grund für die Tat. Edouard Louis schafft es, in seinem autobiographischen Roman gleich alle drei Kategorien -Rassismus, Klassismus und Sexismus - miteinander zu verzahnen. Alle bedingen sich in seiner Geschichte wechselseitig. Thomas Ostermeier macht das in seiner Inszenierung sehr deutlich. In einer kunstvoll verschränkten Dramaturgie lässt er die verschiednen Akteure sich gegenseitig ins Wort fallen oder Kommentare zu dem Geschehenen und Gesagten direkt äußern. So gelingt es ihm die verschiedenen, sich bedingenden, systemischen Aspekte der Entwicklung deutlich zu machen. Gerne verdoppelt er dabei die Bilder der Worte durch zusätzliche szenische, fotografische oder filmische Darstellung. Das Nebulöse ist nicht seine Sache, er steht für eine klare Theatersprache, die etliche der Zuschauer:innen wahrscheinlich nicht gebraucht hätten, aber für die anderen die Spannung der dramatischen Story erhöht hat, die in ihrer scheinbaren Überkonstruktion so viele Ebenen aufmacht, dass die Punkte für ein anschließendes Gespräch nicht ausgehen.
Birgit Schmalmack vom 26.10.23
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