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Aus französischer Perspektive

Ein exklusiver Zuschauerkreis hatte am Eröffnungsspiel der EURO 24 den Weg ins Altonaer Theater gefunden. Dennoch tat das dem intensiven Spiel des Ensembles auf der Bühne keinen Abbruch. Denn hier ging es um Inhalte, die berührten und es auch über die Lücken der Reihen hinweg in die Herzen der Zuschauenden schafften.
Anlässlich des Todes der Mutter bzw. Großmutter kommen die drei Geschwister Serge, Nana (Anne Schieber) und Jean (Dirk Hoener) zusammen. Begleitet werden sie von der Serges Tochter (Chantal Hallfeldt), die eine Rede am Grab ihrer Großmutter hält. Ihr Wunsch ist es, jetzt nach Auschwitz zu fahren, um sich endlich mit der jüdischen Vergangenheit der Großmutter zu beschäftigen. Das war Zeit ihres Lebens in der Familie kein Thema gewesen. So wird daraus ein Familienprojekt, das die Vier auf die Reise von Frankreich nach Polen bringt.
Yasmina Reza hat in ihrem Roman mit den drei Geschwister drei sehr unterschiedliche Charaktere nebeneinander gestellt. Nana, die jüngste, ist als einzige verheiratet und hat zwei Kinder, ist sozial engagiert und anscheinend mit sich im Reinen. Serge ist ein aufbrausender egomanischer Choleriker, der immer zuerst an sich denkt und fest an das Recht des vermeintlich Stärkeren glaubt. Nicht nur ist er von der Mutter seiner Tochter längst geschieden, sondern auch seine jetzige Lebensgefährtin hat sich gerade von ihm getrennt, weil er sie mit Pornodarstellerinnen betrügt. Jean ist der Mittlere und sorgt sich stets um den Ausgleich zwischen allen Polen. Nie bezieht er eine eigene Stellung, sondern bleibt stets der distanzierte, aber vermittelnde Beobachter.
Im Angesicht von Gaskammer und Judenrampe brechen in dieser Familie nun alle Disruptionen in ungebremster Explosivität auf. Hier geht es um verleugnete Lebenswünsche, uneingestandene Fehleinschätzungen, Verletzungen, Bedürfnisse und Wünsche. Angesichts des Grauen und der ultimativen Unmenschlichkeit wird auch dem Letzten, hier Serge, klar, dass Verdrängen nur bedingt hilft. In "Serge" wird sich einerseits über den Tourismus der Vergangenheitsbewältigung lustig gemacht und andererseits dieser als Anlass einer Konfrontation mit Verdrängungsmechanismen genutzt und ein tiefer Blick in die Seelen der Familienmitglieder gewagt. Schließlich wird das Schweigen vererbt. Worauf es sich bezieht, kann aber vielgesichtig sein. Aus deutscher Perspektive ein ungewohnter Ansatz, aus französischer Sicht erfrischend selbstverständlich möglich.
Ein intensiver, konzentrierter und sehenswerter Abend unter der Regie von Georg Münzel im Altonaer Theater. Auch dank der phänomenalen Leistung von Ulrich Bähnk, der den sensiblen Kotzbrocken in jeder Sekunde überzeugend spielte.
Birgit Schmalmack vom 24.6.24