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Die Family unter sich

Ciboulette, Opera Stabile @ Wolfgang Radtke.

Die Family ist unter sich. Hier in diesem queeren Club feiert man nicht nur zusammen, tritt in Battles gegeneinander an, sondern unterstützt sich gegenseitig und erschafft sich selbst einen Safe Space, in dem man so sein kann, wie man ist. Man braucht keine Verstellungs- und Sicherheitsmaßnahmen zu beachten, man kann sein eigentliches Selbst zeigen. Da hat der Ledermann genauso Platz wie die Transfrau oder die Lesbe. Alle werden akzeptiert, egal wie und wen sie lieben wollen.
Das wir eigentlich aber nicht im New York der Neunziger sind, sondern Anfang des 19. Jahrhunderts in Paris, wird schnell durch den Text der Operette des Komponisten Reynaldo Hahn, die von Regisseur Sascha-Alexander Todtner in dieses schrill freche Ambiente gebeamt wurde, deutlich. Das funktioniert ganz gut, denn auch das ursprüngliche Pariser Establishment der Originalversion beherbergte eine illustre bunte Feiergesellschaft, die jedoch noch durch Titel, Standesunterschiede, Abstammung und Klassen bestimmt wurde. Auch hier trafen sich Individuen, die außerhalb dieser Ortes für Nachtschattengewächse in der Gesellschaft keinen Platz finden konnten. Hier taucht Ciboulette auf. die vom Lande kommt, die sich eine Karriere erträumt, für sie aber dringend einen Mann braucht, der ihr diese ermöglicht. Das hat die Ciboulette aus der Neunzigern nicht mehr nötig, aber auch diese nimmt die zahlreichen Avancen der potentiellen Anwärter auf diesen Posten gerne entgegen. Ganz im Stil der neueren Trends wird aus dieser Landpomeranze schnell eine genderfluide Person mit Bart und damit zu einer Künstlerin ganz im Stile von Conchita-Wurst.
Fast alle auf der Bühne der Opera Stabile spielen Doppelrollen. Zum Glück verliert man dank der Moderation von Gabriele Rossmanith, die das Geschehen in New York mit launigen Zwischenmoderationen erklärt, nicht den Überblick. Sie erläutert die Liebschaften und Dramen, erläutert die Spielregeln der Battles der Ballrooms in den verschiedenen Categories, liefert Erklärungen zur queeren Community und wirbt für Verständnis für ihre jeweiligen Probleme. Das macht sie überaus charmant. Doch die gute Seele dieses Club ist eindeutig jemand anderes: Duparquet (Grzegorz Pelutis), als Kopie der berühmten Dragqueen Divine, die mit ihren Rundungen und gewollt aufreizenden Hüftschwung alle mit ihren guten Ratschlägen am wogendem Busen versorgt.
Hier geschieht eher zu viel als zu wenig. All die kleinen Subgeschichten, die Todtner mit seinem spielfreudigen Ensemble unterhalb der Hauptstory auf der kleinen Bühne abspielen lässt, erfordern den Mut zur Lücke, man wird sie nicht alle mitbekommen. Das liegt nicht nur daran, dass so viel gleichzeitig geschieht, sondern auch daran, dass die Puzzleteile des Bühnenbildes ständig neu arrangiert werden. Es ist schon faszinierend zu beobachten, wie die gewichtigen rosafarbenen Holzteile zu immer neuen Arrangements zusammengesteckt werden können, doch es zieht auch die Aufmerksamkeit stark an sich. Da drohte in dieser ideenreichen Inszenierung die Musik fast zur Nebensache zu werden, bei all der Selbstinszenierung der Personen, ihrer Kostümierung und der Choreographie der beweglichen Bühnenteile. Dennoch eine gelungene Neuinterpretation als bonbonbuntes Drama, die auf keinen Fall eines war: langweilig.
Birgit Schmalmack vom 24.7.24