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Von der Lust auf Neues

Fifty shades, Thalia Foto: Fabian Hammerl

Der Bühnennebel qualmt, der Spot geht an, die Showtreppe wird angestrahlt. Doch Meryem Özs Auftritt erfolgt durch die Eingangstür, durch die auch ihre Zuschauer:innen gekommen sind. Wenig glamourös in Latzhose zu Addidasshirt. Erstmal also kein Showauftritt, sondern das Bekenntnis, dass sie ziemlich aufgeregt sei und sich immer noch frage, was das denn werden solle: Ein Abend über ihr Leben, über das einer Siebenundzwanzig-Jährigen?? Doch dann stürzt sie sich in dieses Abenteuer, genau so wie sie sich zuvor zusammen mit Leon Daniel und Yannick Kaftan in ihr Featureabenteuer „Fifty Shades of Meryem“ über ihre Reise in die Türkei ans Schwarze Meer gestürzt hatte.
Jetzt also eine Spurensuche in dem Terrain, auf dem die Schauspielerin sich noch besser auskennt: Auf der Bühne des Thalia-Theaters, dessen Ensemblemitglied sie seit 2021 ist.
Auf der Bühne stehen viele Radiogeräte und Kassettenrekorder, dessen Playtasten immer mal wieder Auszüge aus dem Radiofeature ausspucken können. Außerdem viele Instrumente, die von Meryems Bühnenkomplizin Ayse Glass zum Klingen gebracht werden. Denn der Soundtrack zu Meryems Erinnerungskaleidoskop wird von den beiden Frauen live erzeugt.
Als Meryem die Klappliegestühle auf die Bühne stellen will, brechen sie immer wieder zusammen, genau wie viele andere Dinge in ihrem Leben, wie sie selbstironisch verrät. Genau wie ihr Schrank, der schon dreimal zusammen gebrochen sei, genau wie ihr Führerschein, durch dessen Prüfung sie schon ein paar Mal gerasselt sei. Doch andere Dinge haben sich für sie erfüllt: Sie hat den Traum ihres Lebens verwirklicht, der ihr noch wichtiger war als der Führerschein. Das dafür angesparte Geld verwendete sie lieber für eine Vorsprechtour durch ganz Deutschland. Nun darf sie spielen und verwirklicht damit auch einen Traum ihrer Mutter, den sie für sich nicht erreichen konnte. Denn die rebellische Seite in Meryem scheint sie von ihr geerbt zu haben: Obwohl sie eine Frau mit Kopftuch ist, erschuf sie schon in der Türkei für sich und ihre Tochter mit einem Tuch einen Raum im Weizenfeld, an dem sie sich beide nackt sonnen konnten. Eine Gewohnheit, die sie auch nach der Migration nach
Deutschland nicht ablegten, nur eben jetzt auf dem uneinsehbaren Dach eines Mehrfamilienhauses. Als Migrakind sei es nicht einfach gewesen. Die Kulturen mussten stets ausbalanciert werden, nicht nur in Deutschland. Auch in der Türkei, am schwarzen Meer bei ihren Verwandten. Einmal möchte sie keine Rolle spielen, das wünscht sie sich bei ihrer Reise in ihr Heimatdorf. Doch ihr Onkel macht ihr klar: Genau das gehe eben nicht, sie selbst sei ja nur ein paar Tage hier, er aber bleibe hier und müsste mit all den Kommentaren bezüglich ihres ungebührlichen Verhaltens leben.Die Showtreppe wird dann im späteren Verlauf des Abends doch noch benutzt. Den Ballsaal im Thalia macht sie so zum Ballroom, indem sie sich im sexy Outfit die Treppe herunterräkelt. Viel Musik und sogar die Filmsequenz aus einer türkischen Soap-Schmonzettesind Teil des Abends. In dieser fordert Meryem ihr Anrecht auf Karriere ein und. singt danach: “Ich bin eben so!“. Immer wieder fließen türkische Lieder mit ein. Einen Song von Michael Jackson, einst ihre Inspiration für erste Bühnenauftritte, spielt sie heute nicht. Dafür interpretiert sie für ihren Vater „Griechischer Wein“.
Man könne sich mit Meryem nicht streiten, so behaupten Freunde per Einspielung aus dem Kassettenrekorder, und zwar aus dem Grund, weil sie ständig das Thema wechsele. Auch dieser Abend unter der zurückhaltenden, einfühlsamen Regie von Camilla Ferraz springt von einem Thema zum nächsten und beschränkt sich selbst nicht durch Forderung nach einengender Stringenz. So bringt dieses Kaleidoskop die Persönlichkeit einer jungen Schauspielerin zum Funkeln, ohne dass es sich anmaßt eine klare Botschaft zu vermitteln. Vielmehr lässt es die vielschichtige Collage des Lebens einer jungen Frau mit all ihren Ungereimtheiten entstehen. Hier wird mal keine Zerrissenheit zwischen den Kulturen abgebildet, sondern einfach völlig unaufgeregt eine junge Künstlerin gezeigt, die voller Neugier und Spiellust durch ihr Leben geht und keine Angst vor dem Scheitern und vor dem Unbekannten hat. Schön wenn man ihr dabei auf der intimen Bühne des Ballsaales im Thalia in der Gaußstraße zuschauen darf.
Birgit Schmalmack vom 24.9.24