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Das Gestern fließt ins Heute

Faust, Gretchen, Fraktur, Thalia Foto: Lea Pech


Stell dir vor, die Geschichte von Faust und Gretchen wäre ein Film, wie würde sie sich dann abgespielt haben?Mit Filmschnitten, mit Zooms, mit Draufsichten, mit Drohnenfahrten, mit Vor- und Rückblenden, mit wilden Kamerafahrten, mit fantastischen Einblendungen.
Eigentlich könnte diese Filmfantasie auf der Bühne nur „Gretchen“ heißen, denn sie steht hier eindeutig im Mittelpunkt. Es gibt sie gleich fünfmal. Die fünf Gretchens(Meryem Öz, Pauline Renevier, Gabriela Maria Schmeide, Oda Thormeyer, Anna Maria Köllner) sehen aus, als wären sie tatsächlich im Gestern zu Hause. Mit ihren weißen hochgeschlossenen biederen Kleidern und langen Kniestümpfen ganz die wohlerzogenen Mädchen und braven Frauen, die sich an alle Regeln halten. Doch das täuscht ein wenig.
Faust, dessen Namen das Stück dennoch im Titel trägt, bleibt unsichtbar. Alle Ereignisse werden nur durch Gretchens Brille gesehen. Gretchen ist gleichzeitig frech, aufmüpfig und dennoch brave, gehorsame Tochter und Kirchgängerin. Sie hat sich verliebt in diesen älteren Mann, der sie einfach anquatscht und nachfragt, ob er ihr Geleit anbieten dürfte. Da kann sie nur laut lachen. Wie altmodisch dieser Typ ist! Als er dann nach ihrer Nummer fragt, lehnt sie rundweg ab. Aber nur um ihn stattdessen um seine zu bitten.
Als sie dann tatsächlich zu einem Date verabredet sind, rasen sie wie Bonnie und Clyde durch die Gegend. Mit dem schwarzen Porsche brausen sie gemeinsam durch die Nacht, legen sich aufs Autodach und schauen in die Sterne. Doch Faust will was anderes und er hat schließlich diesen roten Herrn Mephisto bei sich, der im geeigneten Augenblick die KO-Tropfen reicht.
Dieses Pärchen ist sowohl total von gestern wie ganz von heute. Hier mischt sich alles mit allem. In den Gassen, durch die das Gretchen geht, tauchen LED Leuchtreklamen auf, die für eine Kreuzfahrt werben, sie läuft auf ihrem Weg in die Messe am Supermarkt vorbei, der bis 10 Uhr abends auf hat. Und Auerbachs Keller wird bei den Beiden zu einem angesagten Club, in dem sich der ältere Faust gar nicht wohlfühlen mag.
Einmal im Augenblick sein, ganz im Hier und Jetzt nur fühlen, das wünscht sich nicht nur Faust sondern auch Gretchen. Dafür bricht sie die Regeln. Dafür schlägt sie dann auch den Deal aus, den ihr die Richterin später, nachdem die Tragödie schon ihren Lauf genommen hat, anbietet. Statt der kurzen Haft unter Hinnahme der Diagnose einer psychischen Störung nimmt sie gefasst das Todesurteil entgegen. Aufrecht steht sie zu ihrem Tun.
In dem Langgedicht von Lorenz Nolting verweben sich alle Ebenen, alle Zeiten, alle Haltungen, alle Normen miteinander. Wie ein Gedankenstrom, der sich nicht kontrollieren lässt, fließen die Eindrücke, Erfahrungen, Wünsche und Befürchtungen ineinander. Wie in einem Traum, der doch die Grenze zur Realität immer wieder durchbricht, mischen sich das Bewusste und das Unterbewusste.
Dem Autor, der das Stück auch inszeniert hat, ist es gelungen, das Drama so intensiv, berührend, spielerisch, komisch und dennoch ernstnehmend neu zu erdichten, dass es durch sein vermeintliches Zerfließen doch wundersamer Weise extrem verdichtet wird. Selten wurde wohl gleichzeitig versucht, die Aspekte von damals mit denen von heute zu verbinden, ohne eine der Zeit-Ebenen als weniger bedeutend zu erklären. Denn das Früher ist eben auch die Grundlage für das Heute. Wir tragen in der Gegenwart die Vergangenheit in unserem Bewusstsein mit uns herum. Warum sollte man sich auch sonst 2024 noch mit einer Geschichte aus dem Jahre 1808 von einem Herrn Wolfgang von Goethe beschäftigen? Das ist ein Abend, an dem man die gut gefüllte Wundertüte des Theaters, zu dem es in der Lage ist, mit großen Vergnügen und Gewinn erleben kann.
Birgit Schmalmack vom 11.10.24