Wie wollen wir leben?
„Eine Stadt ist die kostbarste Erfindung der Zivilisation.“ Das ist eine der vielen Botschaften, die im Laufe dieses Abends an die Seitenwand geworfen wird. Es treten drei gleich aussehende Frauen an die Rampe, in Stoffhose, Ringelshirt und Struppelkurzhaarschnitt. Schon sind wir mitten drinnen in der Geschichte von Franziska Linkerhand. Im Schnelldurchlauf gibt es einen Kurzeinblick in ihre Familie. Mutter schwierig, Oma cool, Bruder bald weg. Doch Franziska ist keine, die sich unterkriegen lässt. Sie hat ein Ideal für ihr Leben. Frei sein, in jeder Hinsicht. Nach einer Kurzehe mit einem Arbeiter, die sie hauptsächlich aus Trotz gegen ihre Mutter eingeht, da entschwindet sie nach Berlin, schafft es in ein bedeutendes Architekturbüro. Doch sie will nicht am Wiederaufbau des Gewandhauses mitarbeiten, nicht an der Restaurierung der Vergangenheit sondern an der Entstehung einer Zukunft. Also geht sie zurück, in die Provinz, zurück nach Neustadt.
Dort hängen schon die Fertigwandteile (Bühne: Sam Chermayeff Office) von der Decke und werden in rasender Geschwindigkeit heruntergelassen, begutachtet, verschoben und wieder nach oben gezogen. Der Bauleiter ist sich sicher: Franziska werde nicht lange bleiben, wie alle vor ihr auch. Obwohl er sichtlich desillusioniert von den Baunormen, von den Produktionsfehlern und von den Unzulänglichkeiten der Arbeiter ist, hält er an seiner Vorstellung fest, Teil eines wichtigen sozialistischen Projektesfür die Menschen zu sein.
Doch diese neue Stadt ist alles andere als idyllisch. Außer den Wohnquartieren gibt es hier nichts, kein Kino, keine Freizeit- oder Kulturangebote, nur eine Absturzkneipe. Aus Langeweile bleibt nichts anderes als der Alkohol, die Randale und Schlägereien. Doch noch glaubt Franziska an ihr Ideal: zum Beispiel eine Stadt zu bauen, die ihre zwei oder drei Generationen nicht bloß behaust, eine Stadt, die mehr zu bieten hat als einen umbauten Raum, in dem man Tisch und Bett aufstellen kann, eine wichtige Stadt, keine Bankrotterklärung …
So entwirft sie Pläne für ein Stadtzentrum, die dann abgelehnt werden. Natürlich. Ihr Chef hat es vorausgesehen. So sei es immer. Doch Franziska ist noch jung, nicht mal dreißig. In Neustadt kann sie dem Verrinnen der Zeit zusehen, ohne dass sie etwas erreicht hätte. Auch in Sachen Liebesleben tut sich nicht viel. Denn sie ist eine „S". In der Schule wurde in der DDR die Bevölkerung in ABS eingeteilt; in Arbeiter, Bauern und Sonstige. Sie gehörte immer zu der Sorte Sonstige. Herkunft als Handikap, so sah das in der DDR aus. Gerade deswegen will Franziska den Kontakt zu der Arbeiterklasse pflegen und scheitert doch immer wieder daran, ihn mit Leben zu erfüllen. Als sie in Neustadt auf einen Mann trifft, der zwar einen Kipplader fährt, aber eindeutig nicht aus der Arbeiterklasse stammt, wie sie mit Kennerblick feststellt, schwankt sie kurz. Doch wieder in Abhängigkeiten begeben? Als Frau, die nur die Freiheit sucht? Das leuchtet ihr nicht ein. Jedenfalls nicht der Franziska hier auf der Bühne des Gorki. Während etliche, die den fast 700 Seiten starken Roman von Brigitte Reimann gelesen haben, darin auch die starke Liebessehnsucht einer jungen Frau thematisiert sehen, konzentriert sich Sebastian Baumgartner hier auf ihren Unabhängigkeitswillen, der sich keinem Mann unterordnen will.
Interessant Baumgartners Einfall die Kurzeinspielung eines der Kino-Films (Videodesign: Chris Kondek) einzubauen, der eine Archtitekturvision par excellence zeigt und in enger Verbindung zu Neustadt, besser gesagt seinem realen Vorbild Hoyerswerda steht. Brasilia ist eine in die Realität gewordene Musterplanstadt, die vom Reißbrett aus entstanden ist, ganz ohne die Bürden einer Altstadt. Doch einer ihrer maßgeblichen Gestalter, Niemeyer, scheint keineswegs begeistert: Mit KI-unterlegter Stimme kritisiert er im Film die Verwerfungen des Bauhauses, seine Kälte und Unmenschlichkeit.
Dieser Abend zeigt eine junge Frau in drei Stufen ihrer Desillusionierung, die verzweifelt nach einem Sinn in ihrem Leben sucht und sich weigert, ihn in der Liebe zu einem Mann zu sehen. Allerhöchstens als Beiwerk. Er spaltet Franziska in drei Frauen auf, kein neuer Trick, aber an einem Abend, an dem es viel um Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft geht, nicht inkonsequent. Die ganz junge Franzi (Alexandra Sinelnikova) ist ungestüm, aufmüpfig, die mittlere (Maria Simon) offensiver, durchsetzungsstärker und direkter. Die ältere (Katja Riemann) dagegen wirkt müde, desillusioniert, enttäuscht und abgearbeitet. Sie ist schon um alle Visionen und Ideale ärmer geworden.
„Wenn ich konsequent davon träumen würde, was ich will, was wäre es dann?“ Das sind Franziskas letzte Sätze auf der Bühne. Es ist dies wieder die Jüngste der Drei, die sie spricht. Sie sollte auf einem Berliner Kongress über die DDR-Baupolitik sprechen, doch sie ließ die vorbereiteten Papiere fallen und redet ohne Manuskript über all ihre Erfahrungen und Zweifel.
Natürlich hat sie keine Antworten parat. Das wäre sicherlich ein gutes, angenehm nachdenkliches und anregendes Ende in einer Stadt wie Berlin, die sich wie stets in einem Transformationsprozess befindet, gewesen. Doch das erlaubt Baumgartner seinen Zuschauer:innen nicht. Denn vor dem Abblenden laufen auf den Hauswänden Bilder von den Progromen gegen die Vertragsarbeiter:innenin Hoyerswerda, die nach der Wende für Schlagzeilen sorgten und dem Ortsnamen eine unrühmliche Bekanntheit bescherten.
So durchmisst dieser Abend eine riesige Bandbreite an aktuellen Themen, in einer Geschwindigkeit, die schwindlig machen kann. Wie wollen wir leben? Wie stark bestimmen die Lebens- und Wohnverhältnisse unser Denken und Handeln? Wie gelingt Transformation? Wie demokratisch kann sie sein? Kann es eine wahrhaft zivilisierte Stadt, die keinen ausschließt, geben? Wie würde sie aussehen? Dass sich dieser Abend ganz auf diese politischen Fragen konzentriert und sich keinen Ausweg in die Romantisierung erlaubt, ist eine mutige und schlüssige Entscheidung. Dass dennoch der Gefühlshaushalt der drei Franziskas nachfühlbar wird, liegt auch an den drei Darstellerinnen, die es schaffen, zugleich Energie, Stärke, Durchsetzungskraft aber auch Enttäuschung, Sehnsucht und Traurigkeit auszudrücken. Diesen authentisch agierenden Frauen stellt Baumgartner ein großes Arsenal an Männer-Abziehbildern gegenüber, die in ihrer Klischierung zu Statisten in Franziskas Leben werden.
So taumeln die Menschen zwischen den gefährlich schaukelnden Bauteilen auf der Bühne herum, immer in Gefahr von ihnen eingekästelt, zerdrückt oder angeschlagen zu werden. Dennoch weiter kämpfend dafür, dass sie eine Stadt gestalten können, die haltbar ist, bis die Zukunft eintrifft, auf die sie immer noch hoffen.
Birgit Schmalmack vom 30.10.24