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Reine Realsatire?

Alice im Wunderland, Gorki © Ute Langkafel / MAIFOTO


Was folge, sei ein Produkt ultimativer Selbstzensur. So steht es auf dem Eisernen Vorhang. Die Erwartungen sind damit gesetzt. Als sich dann der Vorhang hebt: Großer Auftritt des Königspaars (Ciğdem Teke, Aram Tafreshian) mit Bühnennebel und Luftballons, die bis in den Zuschauerraum gepustet werden. Doch dieser Auftakt dient natürlich nur dazu, um in die Irre zu führen. Denn was nun wirklich folgt, haut kräftig auf die Kacke und zwar im wörtlichen Sinne. Regisseur Oliver Frlji hat sich alle Mühe gegeben, den fantastischen Roman von Lewis Carrolls „Alice im Wunderland" so umzuformen, dass er zu einer klamaukigen Satire auf ein Land namens Deutschland wird.
Ausgangspunkt für seine Interpretation ist, dass die kleine siebenjährige Alice (Via Jikeli) Zugang zu einem Wunderland erhalten möchte, so wie Geflüchtete nach Deutschland. So krabbelt Alice durch ein Loch eines Spiegeltitels mit dem Slogan „Wir schaffen das noch mal“. Die Analogie ist damit gesetzt, an der sich der Regisseur, der zugleich künstlerischer Co-Leiter des Gorki ist, entlang zu hangeln versucht. Die Zutrittswährung sind echte Tränen, die aus der wahren Tragödie herrühren. Die sollen schließlich auch in jedem Asylprozess überzeugend fließen. Als Alice ein paar abgedrückt hat, bekommt sie eine vorläufige Aufenthaltserlaubnis. Der Hase wünscht ihr eine gelungene Integration.
Immer wieder mischt Frlji so in seine Überschreibung des Originals die heutige Sprache. Das gelingt mal mehr, mal weniger überzeugend. Oft greift er zu drastischeren Mitteln. So als der König politischen Durchfall bekommt und er zugleich das Problem der Überbevölkerung und des Klimawandels mit der Verspeisung von Neugeborenen lösen will, die nicht nur hervorragendes Superfood ergeben sondern auch eh viel zu viel CO2 ausstoßen würden. Schließlich sei er gläubiger Feminist: „Gleichberechtigung ist mit Kindern nicht zu erreichen.“
Da schaffen der Hase (Aleksandar Radenkovi), die Raupe (David Rothe) und der Hutmacher ((Elias Arens), die Frlji aus Carrolls Personage übernommen hat, schnell eine mobile Toilette in Form des Berliner Bundestages herbei. Da aber das meiste danebengeht, wird der königliche Hintern anschließend mit der schwarz-rot-goldenen Flagge abgewischt. Schwarzbrauner geht es nicht mehr. Doch es werden noch weitere Vorschläge dieser Art kommen, so viel sei verraten. Er streut jedoch auch immer wieder Sätze ein, auf die sich alle schnell einigen können. „Ich bin was ich bin, dafür werde ich mich nicht entschuldigen“, sagt an einer Stelle die Zeit, die dafür verurteilt werden soll, dass sie die Vergänglichkeit bedingt und damit auch zum Tod allen Lebens, sogar des Königspaares, führen wird.
Irgendwann fällt der Satz: Die Suche nach einer kohärenten Geschichte sei vergeblich. Das trifft auch auf den gesamten Abend zu. Doch das sollte bei einer Fantasieerzählung wie der von Carroll, die dieser direkt im Reich der Träume ansiedelt, auch erlaubt sein. Wenn Frljić seine Vergleiche zu real existierenden Zuständen im hiesigen „Wunderland“ überstrapaziert, um auch ja verstanden zu werden, erscheint das fast verständlich angesichts der momentanen politischen Diskurse, die immer krassere Formen annehmen.
Nachdem Alice endlich den dauerhaften Aufenthalt im Wunderland angeboten bekommt, wundert sie sich, warum sie sich auf einmal so niedergedrückt fühlen würde. Die Königin klärt sie auf: Jeder, der zu diesem gelobten Land Zutritt bekomme, müsse sich der Schuld stellen, die seine Bürger in der Vergangenheit aufgehäuft haben. Ein Umzugskarton mit der Aufschrift „Schuld“ stapelt sich derweil auf den nächsten.
Zum Schluss ist das Königspaar mit seinen eigenen Mitteln der Unterdrückung geschlagen worden. Die Königin ist in ihrem Schaumbad der Kinder-Tragödien-Tränen ertrunken und der König steht schon lange völlig entblößt da. Sein Schneider hatte ihm einen wunderbaren Stoff für seinen neuen Anzug angedreht: Nur für Kluge ist er sichtbar, für alle anderen transparent. Also lassen ihn „des Kaisers neue Kleider“ nackt dastehen. Aram Tafreshian spielt das mit einer ganz wunderbaren Nonchalance und Souveränität.
Doch wird nach ihrer Absetzung nun alles besser? Schon hat Alice das Kleid der Königin übergezogen und geriert sich rigide wie sie. Jetzt werde erst einmal für Ordnung gesorgt. Das heißt hier: Alle bisherigen Akteure hinter die Grenze, durch die Alice zu Beginn durchgekrabbelt war. Jetzt allerdings ist der Spiegel-Titel ein anderer: „Wir müssen endlich in großem Stil abschieben“, heißt er nun. Statt Merkel ist jetzt Scholz zu sehen.
Dezent ist das Gegenteil dieser Inszenierung. So häuft er Diskursschnipsel, Bonmots, Seitenhiebe, Absurditäten, Aufreger und durchaus einleuchtende Metaphern zu immer neuen Szenen aneinander. Scheinbar wollte Frlji alles unterbringen, was einen zurzeit ärgern könnte. Also nicht gerade wenig. Die Traumreise in dieses Wunderland hat bei ihm eine Flut an Analogien ausgelöst, die ihm plausibel erschienen. Leider ergeben nicht alle gleich viel Sinn. So zum Beispiel auch die letzte Idee des Königs: Nach den Kindern will er zum Schluss doch lieber die Boomer aufessen. Sie seien schließlich an allem schuld. Sie hätten die Klimakatastrophe zu verantworten, besetzen die Machtpositionen, müssen bis ins hohe Alter gepflegt werden und sorgen obendrein für einen Kollaps des Rentensystems. Ernst nimmt den nackten König dabei in seinem Staat schon lange keiner mehr. Daher müssen seine Vorschläge logischerweise immer verzweifelter werden. Das ist schließlich in der Politik auch so. Doch könnte dieser letzte Winkelzug der Regie wohl auch heißen: Liebe Boomer (von denen auch viele im Publikum sitzen) seid euch nicht zu sicher. Mancher Vorschlag könnte auch euch an den Kragen gehen.
Birgit Schmalmack vom 27.10.24