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Von Appetithäppchen bis Kunstinstallation

Umuko, HAU 1 Dajana Lothert


Umuko– das ist ein Baum in Ostafrika, der leuchtende, weithin sichtbare rote Blüten und Blätter trägt. Unter diesem Titel gebenden Baum sollen sich die Generationen versammeln, hier sollen sich Vergangenheit und Zukunft treffen. Das ist der Plan von Choreographin Dorothée Munyaneza für ihre Arbeit „umuko“, die das diesjährige Festival Tanz im August eröffnete.
Munyaneza, die aus Ruanda stammt und vor dem Genozid zuerst nach England dann nach Frankreich geflohen ist, nimmt sich viel Zeit und Raum für ihre Suche nach den Wurzeln in der Tradition ihres Herkunftslandes. Ihr Expeditionsteam besteht aus vier jungen Tänzern und Musikern. Es wird eine ruhige, meditative, konzentrierte Reise. Der Baum erscheint höchstens denen mit sehr viel Fantasie. Denn ihre Arbeit bleibt im Abstrakten. So nimmt sie einzelne der traditionellen Bewegungen genau unter die Lupe, zerlegt sie in ihre Einzelteile und setzt sie mit Hilfe der noch jüngeren Generation wieder neu zusammen. Aber nur in Ansätzen. Die Erkundungen bleiben wie das Schattentheater der Vorfahren, das diffus hinter der leuchtenden Rückwand zu sehen ist und im besten Falle auch davor aufscheinen sollen. Doch das Neue, das sich entwickeln könnte, wird nur kurz angedeutet. Am ehesten in der Musik, denn von ihr ist der Abend dominiert. Die Vier auf der Bühne bringen die besten Voraussetzungen dafür mit; sie sind zusätzlich zu ihrer tänzerischen Ausdruckskraft auch exzellente Musiker, sowohl an ihrem Instrument wie mit ihrer Stimmen. Doch nur selten erlauben sie sich ganz in den Flow der Musik zu kommen. Erst ganz zum Schluss lassen sie sich ein wenig in den Rhythmus fallen und geben sich gemeinsam ihrer Lust an der Musik und der Bewegung hin. Doch kaum ist diese Stimmung erreicht, erlischt das Licht. So präsentierte „umuko“ ein Tableau an Möglichkeiten und eine große Variation an Zutaten für ein Buffet, die die Vielfalt und den Reichtum zeigen und bei dem man auch winzige Appetithäppchen kosten durfte, aber zu einem Schlemmermahl waren die Zuschauer:innen hier definitiv nicht eingeladen.



Die ganze Bühne bei „Sea of Silence“ ist voller Sand. Sieben Frauen liegen in durchscheinenden Gewändern am Boden, halten sich mühsam aufrecht oder kriechen umher. Sie scheinen fast zu verdursten. Man hat sofort Bilder von Fluchtbewegungen durch die Wüste vor Augen. Nachdem sie sich aufgerappelt und an den Bühnenrand gestellt haben, legen sie aus weißen Tüchern gewickelte Kostüme an. So weniger entblößt und ihrer selbst gestalteten Kleidung beraubt, gibt eine nach der anderen in ihrer eigenen Sprache Einblicke in ihre Erfahrung von Gewalt, von Zurückweisung, von Anpassungsdruck und vom Wunsch nach Eigenständigkeit. Diese Gedanken und Erfahrungen der einzelnen Frauen, die aus Nigeria, Ägypten, Indonesien, Brasilien, Chile, Mexiko und Uruguay stammen, sind von der Choreographin Tamara Cubas kunstvoll ineinander verwoben. Stets mischt sie ebenso virtuos Bewegung und Gesang darunter.
Jede der Frauen benutzt ihre je spezifische Bewegungs- und Kommunikationssprache. In jeder symbolisiert sich eine besondere Geschichte der Kolonialisierung, dem Raub der eigenen Muttersprache und der eigenen Kultur. Erst jetzt wagen es die Frauen den Anspruch zu stellen, sich ihre eigene Kultur wieder Stück für Stück zurückzuerobern. Sie treten im Laufe des Abends immer kämpferischer und selbstbewusster auf. Während sie zu Beginn noch jede einzeln ihren Weg durch den Sand suchten, so formen sie sich im Lauf des Stücks immer mehr zu einer Einheit, die nun gemeinsam für ihre Sache der Rückeroberung eintritt. Sie werden zu einer starken Frauengang, die sich traut für ihre Sache aufzustehen und einzutreten. Sie stellen Ansprüche und erwarten nicht, dass jemand sie für sie durchficht.
Das ist eine starke Arbeit, die klug arrangiert ist und von den sieben Persönlichkeiten auf der Bühne lebt. „Sea of Silence“ enthält viel Text und viel Gesang. Die Bewegungssprache des sehr divers besetzten Frauenensemble besteht aus einfachen, chorischen Mustern mit sich wiederholenden, sich langsam weiter entwickelnden Variationen. Cubas Arbeit wird so zu einer choreographierten Performance der Selbstvergewisserung, die in schönen poetischen starken Bildern kraftvolle Frauen mit klaren Botschaften zeigt.



"Horcht, ihr Schatten, die im Dunkeln wohnen,
Lernt das Licht verachten!
Glücklich, glücklich sind jene, die in der Hölle
Die Qualen dieser Welt nicht verspüren!"
Diese gesungenen Worte stehen (im englischen Original "Flow, my tears" des englischen Renaissancekomponisten John Dowland) am Ende der Kunstinstallation „Ausland“mit spirituellen Impetus in der Kathedrale des nächtlichen Clublebens namens Kraftwerk. In der Düsternis dieses monumentalen Bauwerks erkundet Jefta van Dinther das Verhalten einer merkwürdigen Spezies. Irgendwo zwischen Pflanzen, Tieren, Antroiden und Menschen angelegt, dürfen die Zuschauer:innen diese Wesen über drei Stunden lang wie in mehreren Versuchsanordnungen bei ihrem Tun beobachten. Sie dürfen Studien über sie anstellen, genauso wie diese selbst sich gegenseitig unter die Lupe nehmen und austesten. Sie beeinflussen sich, sie drangsalieren sich, sie belauschen und ergründen sich, aber nur im körperlichen Sinne. An Austausch hat hier keiner wahrhaftes Interesse. Sie behandeln sich eher wie Schlingpflanzen oder Quallen, die sich zwar gemeinsam fortbewegen und beeinflussen, aber keine Kommunikation betreiben. Sie bleiben distanziert, gefühllos, rein forschend, wissenschaftlich. Lässt sich zum Beispiel mit einer Boombox, die wie ein Scanner, Stempel oder Laser benutzt wird, etwas ergründen, etwas abhorchen und eine Information aus dem anderen herauslocken?
Das geschieht mit heiligem Ernst, mit wissenschaftlichem Interesse und mit kühler Distanz. Menschlichkeit im Sinne von Mitleid, Empathie, Einfühlen oder überhaupt Emotionen sucht man bei ihnen vergeblich. Obwohl sie sich sehr nah kommen, auch zum Teil völlig unbekleidet, scheinen ihnen Motivationen wie sexuelles Interesse nicht in den Sinn zu kommen. Auch zu solchen Gefühlen sind diese merkwürdigen Gestalten anscheinend unfähig.
Innerhalb des letzten Drittels der dreistündigen Show singen zuerst die Frauen dann die Männer aus dem Cast in einer ziemlich langen Sequenz "Wicked Game" von Chris Isaak in Slow-Mo-Dauerschleife. Während sie im mehrstimmigen Gesang den dringenden Rat geben, sich nicht zu verlieben, scheinen ihre Kolleg:innen auf den Matratzen den Beweis genau dafür anzutreten, indem sie in den Begegnungen mit den anderen in einer Sekunde von Zärtlichkeit zu Brutalität wechseln.
Die arrangierten Begegnungen entwickeln sich organisch. Dinther, der selber mittanzt, gestaltet in "Ausland" mit seinem Team eher Bewegungsmuster mit Zielvorgaben als eine festgelegte Choreographie. Ein neues Land mit unbekannten Lebewesen und einer ungewohnten Lebensart steht hier unter Beobachtung. Man braucht viel Geduld, denn nur langsam entwickeln sich Variationen des immer gleichen. Die Stationen, an denen in Kraftwerk hier etwas zu sehen ist, werden durch eine kluge Licht- und Tonregie kenntlich gemacht. Obwohl der Soundteppich des Tonkünstlers Billy Bultheel immer ähnlich bleibt, deuten die hin und her geschobenen Lautsprecher und die Steuerung der Beleuchtung den Ort des nächsten Geschehens an. Der Rest der Halle bleibt dann im Dunkeln versunken. Hin und wieder erklingen immer wieder wunderschöne Gesänge, manchmal sogar in Choral ähnlichen Arrangements. Dann entsteht fast eine meditative Stimmung. Das hat alles seine Faszination, bleibt aber doch sehr rätselhaft und spuky. Was passiert hier in diesem Land, das erkundet werden soll? Man bleibt bis zum Schluss unschlüssig, ob man Lust hätte es zu bereisen. Die Ruhe, Langsamkeit und Entschleunigung reizt schon, aber die Emotionslosigkeit und Distanziertheit seiner Bewohnenden stößt doch eher ab. Die Kälte passt zur Betonhalle, durch die normalerweise die Hitze einer Clubnacht wabert, in der vielleicht die Begegnungen ähnliche Nähe erzeugt und vortäuscht, aber doch oberflächlich und auf den Moment beschränkt bleibt.




Ich rufe Haiti, ich rufe Madagaskar, ich rufe Guadeloupe,ich rufe Frankreich, ich rufe Belgien. Es melden sich in "Fampitaha, fampita, fampitàna", (zu deutsch in etwa: Vergleich, Überlieferung und Übertragung), jeweils mehrere der vier Performer:innen auf der Bühne, auch mehrmals nacheinander. Denn sie gehören alle einer Einwanderungsgeneration an und haben somit mehrere Wurzeln.
Alle sind in höchst spektakuläre Kleider gehüllt, die aus neu zusammengestellten Versatzstücken höfischer Kleidungbestehen.Die Choreographin und Tänzerin Soa Ratsifandrihana trägt ein bonbonfarbenes Prinzessinnentaftkleid, Audrey MerilusLederhosen zu weißem Hemd und Weste mit langem blauen wehendem Unterrock. Stanley Olliviereine Brokatweste zu gelben Shorts und einem Schmuckkragen und der Musiker Joël Rabesolo einen frackähnlichen Anzug mit Pailletten. Während dieser Melodien an seiner E-Gitarre erzeugt, starten die drei zunächst mit einem lang andauernden, zeremoniell anmutenden Tanz, der in die Gleichförmigkeit nur allmählich kleine Veränderungen einbaut. Er beschränkt sich auf eine gerade Linie zwischen hinterem und vorderem Bühnenrand. Ein sehr begrenzter Raum. Ihre weiß-rot-blauen Schärpen, die sie sich umlegen, lassen ahnen warum. Die erzwungene Anpassung in ihrem neuen Zuhause, die vermeintliche Zugehörigkeit zur Grande Nation, lässt wenig Variationen zu. Von Ausdrucksfreiheit keine Spur. Sie sind eingezwängt in Konventionen.
Doch dann ändert sich die Live-Musik, dieRabesolo direkt auf der Bühne an einer Station, der E-Gitarre und dem Schlagzeug erzeugt. Während sie rhythmischer wird, werfen die drei Tänzer:innen nach und nach die einzelnen Schichten ihrer Kleidung ab, ziehen sich alle silberne Stiefel an und erobern sich die Straße. Sie kommen ins rhythmische Marschieren. Sie erschreiten sich ihren Raum und gewinnen währenddessen immer mehr an Ausdrucksstärke. die Musik wird funkig und ihr Tanz wird immer wilder, offener und energischer. Als sich noch eingängigere Klänge hinein stehlen, ruft der Performer übermütig ins Publikum: „Wie geht's Germany?“ Das westliche Publikum hat eben bestimmte Erwartungen an Tänzer aus der Karibik, die bedient werden wollen. Doch kaum fangen Teile in den Rängen an, mitzuschunkeln, brechen die Performer abrupt und augenzwinkernd ab.
Eine Sprachlektion folgt, die auf die untergründige Lächerlichkeit des Anpassungsdrucks hinweist. Erst ein Zungenbrecher auf französisch, dann einer auf englisch, werden einstudiert. Als der Musiker, der zur ersten Einwanderergeneration gehört, daran scheitert, revanchiert er sich mit einem Spruch in Malagasy, an dem alle anderen aufgeben müssen.
Unter den Tanz mischen sich immer wieder unterbrochene Bewegungen, die in der Mitte stoppen und die Richtung wechseln, und wilde Zuckungen. Migration ist keine glatte, gradlinige Angelegenheit. Erst ganz zum Schluss finden die Tänzer:innen zuerst zu einer Ausgelassenheit in der Gemeinschaft und dann zu einer meditativen Ruhe, die auf eine eigene Basis, der sie sich langsam annähern und für sich wieder erobern, hoffen lässt.
Der Text des afrodiasporischen Autors Sékou Semega am Schluss ist eine flammende Rede für Widerstand und Selbstermächtigung. Sie wird zum Teil übersetzt und zum Teil auch nicht, passend zu dem Nichtverständnis, dem auch alle kolonialisierten Menschen stetig ausgesetzt waren. Die Botschaft ist auch so klar, und zwar nicht erst durch diesen Text, denn die Vier auf der Bühne haben sie die letzten neunzig Minuten auf der Bühne gezeigt. Eine Arbeit, die persönlich, intuitiv, sympathisch und einladend war, weil sie stets mit einem Augenzwinkern präsentiert wurde. Man merkte allen Beteiligten an, dass sie jeweils persönliche Beziehungen zu dem Thema haben, das gab ihnen eine große Authentizität und Dringlichkeit. Diese Emotionalität übertrug sich auf die Zuschauer:innen. So kann unverkrampftes Empowerment aussehen, das keine der unterdrückenden Auswirkungen der Kolonialisierung verschweigt und es dennoch schafft, in keinem Moment anbiedernd noch anklagend daherzukommen.
Birgit Schmalmack vom 24.8.24