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Abtauchen in die Unterwelt

Orfeo!, Kampnagel Foto: Julia Kneuse



Das Publikum in der K6 wird Zeuge großen Glücks. Orpheus und Eurydike haben sich getroffen und geben sich für kurze Zeit ihrem neu gefundenen Liebesglück hin. Doch die Idylle trügt. Im Hintergrund rauchen die Schlote, sind die Abräumbagger von Lützerath zu sehen und wenn die Kamera sich hebt, geraten die riesigen offenen Kohlefelder ins Blickfeld. Mit "Oberwelt" sind diese Filmszenen übertiteln. Diese ist laut Einblendung angesiedelt im Jahre 2057 (wirkt aber sehr heutig) und augenscheinlich wenig einladend.
Doch dann führt der Titel "Unterwelt" auf ein neues Terrain. Auf der Flucht vor einem Mann, der Eurydike überfällt und anscheinend vergewaltigen möchte, gerät sie in einen Tunnel und stolpert in eine neue Welt. Plötzlich ist sie umgeben von lachenden, spielenden, jungen Menschen mit blau angemalten Gesichtern. Sie versuchen sich im Feuer Machen, im Hütten Bauen, im Gärtnern, im Musizieren und Meditieren. Eurydike hat ebenfalls eine Verjüngungskur durchgemacht und wird zu einem etwa zehnjährigen Alter Ego. Eine Chance zum Neuanfang bietet sich. Demzufolge hat sie, als Orpheus - ausgerechnet auf einer Harley - als selbsternannter Retter sie holen kommen will, keine Lust wieder mit zurück zu kommen. Sie lässt seine Hand los und entscheidet sich lieber in dem Reich der Jungen zu bleiben und noch einmal wieder von vorne zu beginnen.
Dieses interessante Storyboard von "Orfeo!", einer Überschreibung der antiken Geschichte, in der der unsterblich liebende Orpheus seine verstorbene Geliebte mit Erlaubnis der Götter aus dem Totenreich zurückholen will, versteht man aber erst richtig, wenn man den Abendzettel gelesen hat. Denn das Arrangement zwischen Film, Musik und Performance ist zwar überaus virtuos komponiert, greift Sekunden genau ineinander, aber die Handlung nicht immer klar zu erkennen. Zu ähnlich sind sich hier in dieser Filmszenerie Ober- und Unterwelt, zu verwirrend die Zeitebenen, die durch die Kostüme angedeutet werden. Während Orpheus und Eurydike (auch als ihr junges Alter Ego) mit ormamentaler wehender Kleidung etwas antiquiert daherkommen, sind die jungen Leute lässig in lockeren heutigen T-Shirts und Shorts gekleidet. Dass sie Klimaaktivisten sein sollen, erfährt man erst im Abspann.
Doch unabhängig von diesem inhaltlichen Überbau, der nicht immer zwingend erscheint, kann man sich auch einfach voll und ganz der wunderschön neu arrangierten Musik des Monteverdischen Ausgangsmaterials durch das Ensemble Resonanz hingeben. Wie dieses bewegliche Orchester der Musik Schwung, Tiefgang und Abgrund verleiht, ist grandios. Es bekommt eindrucksvolle Verstärkung durch drei Sänger:innen, die jede:r eine besondere Interpretation mit einbringen. Ob Obertongesang, ob Opernfach und soulige Arabesken, ihre Interpretation der Arien direkt auf die Münder der Protagonisten im Film ist formvollendete Maßarbeit. Und erst die beiden Hauptdarsteller:innen (Odine Johne und Clemens Schick) im Film! Beide spielen ohne viele Worte, nur mit ihren Blicken, Gesten und Bewegungen die stets suchenden Liebenden, die ihren Verlust in eine Neuentdeckung münden lassen. Ein großes Projekt, in dem die Regisseurin Sandra Strunz erfolgreich die Genregrenzen überwunden hat und sie zu einem ineinander greifenden Ganzen auf der Bühne verbindet.
Birgit Schmalmack vom 17.3.23

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