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Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner

Dat Leven vun de Liven, Lichthof G2 Baraniak



In der Sprache begegnen sich Vergangenheit und Zukunft. Denn sie ist ein Kommunikationsmittel, das der steten Entwicklung unterliegt. Obwohl vordergründig erstmal ein nützliches Mittel zum Zweck, ist sie zugleich Trägerin von Tradition, Kultur und Identität. So ist sie hoch aufgeladen mit Gefühlen wie Verbundenheit, Gemeinschaft und Identifikation.
Regisseur Helge Schmidt spürt mit seinem neuen Stück "Dat Leven vun de Liven" dem Verschwinden von Sprachen nach. Dazu fuhr er mit seinem Team nach Lettland. Dort sprachen sie mit den letzten Vertretern der Liven, die versuchen das Livische am Leben zu erhalten. Zum Einkaufen brauche er das Livische nicht, meint der Leiter des Livländischen Instituts Valt Ernštreits, aber um über solche Dinge wie den Tod zu reden, schon eher.
Für Schmidt lag nahe dieses Themengebiet in Hamburg mit dem Plattdeutschen zu verknüpfen, das in dieser Stadt fast komplett aus dem Alltag verschwunden und meist nur noch auf Lese- und Theaterbühnen zu erleben ist. Also bot sich eine Kooperation mit dem Ohnsorgtheater (vertreten durch Erkki Hopf, Birte Kretschmer) an, den Spezialisten für diese Sprache in Hamburg. So verbinden sich in diesem Stück nicht nur die verschiedenen Sprachen sondern so unterschiedliche Genres wie Boulevardtheater und Freie Szene (vertreten durch Cem Lukas Yeginer. Lamis Ammar).
Doch hier werden keine Geschichten erzählt wie im Ohnsorgtheater üblich, nein hier werden Diskurse angestoßen, hier werden Gedankenräume eröffnet, mit durchaus politischen Spitzen. Dass gerade in Hamburg Richard Ohnsorg einst für eine Stärkung des Plattdeutschen eintrat, um das Nationalgefühl zu stärken, ist eine Randbemerkung, die bei den noch anstehenden Aufführungen auf der Partnerbühne am Hauptbahnhof durchaus für Gesprächsstoff sorgen könnte.
Der sozialistische Ansatz der Sowjetunion "Eine Nation, eine Sprache" hatte auch für Lettland gleichmacherische Auswirkungen. Die Einheitssprache des Russischen war Gebot. Denn der Gebrauch von Dialekten und Regionalsprachen markiert gleichermaßen Zugehörigkeit und Exklusion. Im Gegensatz zu Hochsprachen sind Dialekte kaum erlernbar, zeigen sie doch gerade die Verbundenheit zu einer sehr kleinen Region und erzeugen Heimatgefühl. Im Gegensatz zu Weltoffenheit? Doch ihr Verschinden in einer immer globaler werdenden Welt bedeutet auch Verlust von Reichtum, Vielfalt, Gedanken- und Gefühlswelten, die wegnivelliert zu werden drohen. In diesem Spannungsfeld bewegt sich ihre Pflege.
Schmidts intensives, vielschichtiges und anspruchsvolles Diskursstück lässt kaum einen Aspekt aus. So wird auch die Debatte um das Staatsangehörigkeitsgesetz, die Leitkultur und die Einführung eines Heimatministeriums in Erinnerung gerufen. Sprache definiert eben auch Grenzen der Zugehörigkeit. Dafür steht Lamis Ammar mit auf der Bühne. Sie spricht neben Hoch- und Plattdeutsch palästinensisches Arabisch, eine Sprache, die ebenfalls vom Aussterben bedroht ist.
Auf dem weißen Stoff, der den Bühnenraum umschließt, werden nicht nur Wolkenbilder sondern auch Aufnahmen aus Lettland projiziert: So die Interviewpassagen mit den lettischen Gesprächspartnern und Bilder von verlassenen Orten wie ungenutzten Radarstationen und Plattenbausiedlung aus sowjetischer Zeit. Sie erhält keiner mehr, sie verschwinden sukzessive. Doch wenn sich jemand um das Aussterbende kümmert, wenn jemand das Verschwindende für wert erachtet, wenn es jemand liebt, kann es erhalten bleiben. So sagt der Schauspieler Erkki Hopf zum Schluss über diese "döösige verdreihte" Sprache: "Un dat Truurigste is, dat ik ehr vun Harten leef heff."
Birgit Schmalmack vom 6.3.23