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Die schwierige Beziehung zwischen Mensch und Masch

Karambolage, Monsuntheater © Judith Zastrow


"No risk, no fun", das ist die These der estnischen Wissenschaftlerin (Susanne Reifenrath), die zunächst die Hintergründe der Massenkarambolage auf der A7 im Jahre 2020 erläutert. Mit einer Magnettafel und Bildern der beteiligten Autos erklärt sie den Hergang des Unfalls, der sich auf einem geradezu idealisierter Stück deutscher Autobahn abspielte. Ohne Baustellen, ohne widrige Wetterverhältnisse, aber eben mit Fehlern behafteten Menschen, die in den Autos saßen. Es wird im Laufe ihres Vortrags klar, dem die Zuschauer:innen in einem improvisierten Konferenzsaal folgen können: Alle sich potenzierenden Folgeerscheinungen der Massenkarambolage beruhten auf menschlichen Fehlern. Sollte nun, wenn die KI immer mehr einzelne Kontrollfunktionen übernimmt, die Unfallwahrscheinlichkeit noch geringer werden? Die Wissenschaftlerin mahnt zur Einsicht: Wer jeden Unfall ausschalten will, schaltet auch die Zufälle aus.
Daran knüpft der zweite Teil der neuen Produktion von Meyer&Kowski "Karambolage" an: Der Künstler Peader Kirk lässt uns den Menschen hinter der Unfallerzählung begegnen. "Accident happens" ist dazu sein Motto. Sein zweites: Was für den einen gut ist, kann für den anderen schlecht sein. Genau das erlebte er: Eigentlich hätte er auf der Autobahn zwischen Hannover und Hamburg sein sollen, doch Corona zwang ihn dazu, nach Großbritannien zurückzukehren und so saß er im Flugzeug über der Straße, als der Rauch aus den brennenden Autos aufstieg. Wieder in seiner Heimat begann er den Geschichten hinter dem Unfall nachzuspüren. Mit Hilfe der Kollegen aus seinem Künstlerkollektiv "Gold" rekonstruiert er vor videoanimierter Leinwand deren Erzählungen. Da mietet ein Paar extra für seine Hochzeitsreise ein Cabrio statt zu fliegen. Da flieht einer der Unfallinsassen mitten über die Autobahn, weil er um seine Fehler weiß. Da wirft ihm die Polizistin, die eines der zu schnell fahrenden Autos verfolgte, die Tür direkt vor der Nase zu. Da berichtet ihm die Enkelin, die mit der Oma in dem sich quer stellenden Wohnmobil saß, von dem wunderschönen Tag im Freizeitpark, an dem sie beide noch so glücklich waren. Da erzählen die beiden Freundinnen, die auf der Fahrt nach Hamburg waren, um einen Floristenladen zu eröffnen, dass sie nun nur noch gemeinsam Sträuße binden können. Bei der einen ist der rechte Arm verletzt, bei der anderen der linke. Auch Peader Kirk weiß: Schalten wir den Zufall aus, verschwindet auch das Wunder. Versuchen wir jedes Risiko zu vermeiden, verschwindet auch die Wandlung zum Unverhofft Positiven. Mit seinen kleinen Zaubertricks bringt er diese Magie in seinen Vortrag. Zum Schuss dürfen alle Zuschauer:innen etwas Wärme spüren. Ein kleines Schnapsglas voll heißer Flüssigkeit bekommt jeder in die Hand und darf sich so die wärmende Nähe eines Menschen vorstellen, der die Hand eines Unfallopfer gehalten hat.
Schon geht es zur nächsten und letzten Station: Hier spüren die restlichen Kollektivmitglieder an der imaginierten Unfallstelle den persönlichen Fundstücken nach. Ein Kinderpullover, ein Buch, eine Fotografie, ein Handy, eine Brille, eine zerbrochene Tasse und ein Kuscheltier werden aus dem Sand an der Unfallstelle heraus gebuddelt, sorgsam gesäubert, abgewogen und betrachtet. Hier wird noch etwas Weiteres klar: Der Unfall betraf Menschen aus vielen verschiedenen Ländern der EU. Wenn sie miteinander sprachen, dann in ihren Sprachen. So wie die Kollektivmitglieder. Verständigung klappt hier nur über das Einfühlen.
So hatte diese Produktion unter der Regie von Marc von Henning viele verschiedenen Ebenen des Verständnisses. Von der Verstandesebene über die zwischenmenschliche bis hin zur emotionalen. Ein spannungs- und abwechselungsreicher Abend, der unsere schwierige Beziehung zur Technik deutlich machte, weil er sie auf eine sehr direkte, persönliche Art konkret werden ließ.
Birgit Schmalmack vom 6.3.23