Verstellte Perspektiven

Abbau Ost Acud Theater, Foto: Toni Petraschk



Auf getrennten Wege werden die Zuschauer:innen in den Theaterraum geführt Sie blicken auf eine geschlossene Mauer, die kein Hindurch- oder Hinüberschauen erlaubt. Sitze ich jetzt im Osten oder im Westen, fragt sich da die eine oder der andere. Denn heute Abend soll es um den immer noch ziemlich verstellten Blick auf den Osten gehen. Und zwar aus dem Blickwinkel der Ossi-Nachwendekinder, die sich in einer undankbaren Rolle zwischen ihrem eigenen Erleben und dem ihrer Eltern und Großeltern befinden. Plötzlich geht der Riss mitten durch die Familien, steht eine Mauer mitten im Wohnzimmer, wenn sie mal wieder zu Besuch in der Ex-Heimat sind, der sie den Rücken gekehrt haben, indem sie "rüber" gemacht haben. Politik ausklammern? Kontakt abbrechen? Oder das Gespräch suchen? Stellvertretend für ihre Interviewpartner:innen schlüpfen Gregor Knop, Julek Kreutzer, Thea Rasche, Martin Schnippa auf ihrer Seite der Pappkartonmauer in die verschiedenen Rollen mit den unterschiedlichen Meinungen. Mal sind sie ein junger Mann, der sich über die immer noch vorhandenen Vorurteile über die Ossis aufregt. Mal ein Wissenschaftler, der leidenschaftlich für die Wahrung der deutschen Werte wirbt, sich aber gleichzeitig der Offenheit für alle rühmt, egal welcher Hautfarbe, welches Geschlecht oder welcher Religion auch immer. Mal ein Neu-Berliner, der das Wiederauflackern der Verschwörungstheorien in der rechten Szene beklagt. Mal sind sie Janines Mutter, die so gerne ein richtiges Brautkleid für ihre Tochter kaufen möchte, aber eigentlich nicht versteht, warum sie unbedingt diesen Karim heiraten muss. Mal Janine, die am liebsten ihre Mutter gar nicht zu ihrer Hochzeit einladen möchte. Mal Janines schwuler Freund, der ihr von einem Date mit einem Glatzköpfigen erzählt, während diese sich noch daran erinnert von genau solchen in ihrer Jugend gejagt worden zu sein.

Doch eigentlich sind sich alle in dieser Generation schnell einig: Ost und West spielt für sie keine Rolle mehr. Nur die früheren Generationen lebten noch immer in dieser Ossi-Jammer-Zone. Oder versichern sie sich dabei nur allzu gerne der Fortschrittlichkeit ihrer Bubble, die in einer Großstadt lebt und sich so gerne von der Provinzialität und Nostalgie der Älteren abheben möchte, um die ersehnte Anerkennung im vermeintlich besseren Westen zu erlangen? Nach dem Motto: Wir haben es geschafft und die sind einfach nicht rausgekommen?

Die Collage, die das Team um den Regisseur Rico Wagner mit dem Text von Elias Kosanke hier für die Bühne eingerichtet hat, ist so vielschichtig und multiperspektivisch angelegt, dramaturgisch so abwechselungsreich eingerichtet und so energiegeladen dargestellt, dass es nicht nur großen Spaß macht ihnen dabei zuzuschauen sondern auch mit einem Erkenntnisgewinn gepaart ist. Auf der Bühne entspinnen sich intensive Dialoge zwischen Älteren und Jüngeren, zwischen Ossis und Wessis, zwischen Intellektuellen und Otto-Normalverbraucher:innen, zwischen Enkelin und Oma, zwischen Mutter und Tochter. Die Auseinandersetzung zwischen Janine und ihrer Mutter bildet dabei einen roten Faden durch das Stück. Während die Pappkartons immer neu geschichtet, entpackt, umgepackt, abgebaut und zum Teil zerfetzt werden, greifen die Beiden in wechselnden Besetzungen ihren fast schon abgerissenen Gesprächsfaden wieder auf und geben dem Stück zum Schluss einen Hoffnungsschimmer, dass der Austausch über die unterschiedlichen Erfahrungswelten möglich ist.

Birgit Schmalmack vom 17.10.22