Im Schattenreich
Seien Sie ganz beruhigt, ich passe auf Sie auf. Die blinde Gül Pridat kennt sich mit Dunkelheit aus, deshalb ist sie die perfekte Helferin bei unserer Reise in die Unsichtbarkeit. Sie geleitet uns auf unsere Plätze im Malersaal und wird während der nächsten 90 Minuten in völliger Schwärze bei uns bleiben. Wir werden sie immer wieder hören, denn sie begleitet den Abend von Rimini Protokoll musikalisch. Ansonsten werden wir neun verschiedenen Stimmen lauschen, die uns von ihrer Erfahrung mit der Schattenwelt berichten. So lotet Rimini Protokoll in Société Anonyme ganz unterschiedliche Ebenen und Aspekte der Dunkelheit aus. Die Anwältin, die ihre Schizophrenie unter Aufbietung all ihrer Kräfte vor ihrer Klienten geheim hält. Der Marokkaner, der unsichtbar bleiben muss, weil er illegal in Deutschland ist und genau deswegen ein so williger und allzeit verfügbarer Arbeiter im Hafen ist, ohne den hier gar nichts mehr laufen würde. Die Samenbankleiterin, die findet, dass sie den schönsten Beruf der Welt hat, weil sie schon 900 Menschen den Kinderwunsch erfüllen konnte, dessen Spender aber gerne anonym bleiben sollen. Der Steuerberater, der sich als Steuergestalter sieht, weil er mit seinen Kunden nach den Schlupflöchern im System sucht. Der Immobilienmakler, der nur mit Scheingesellschaftern seine Immobilienfirmen weiterführen kann, weil er als Scientology-Anhänger vom Verfassungsschutz überwacht wird. Die Frau, die als Kind von ihrem um etliches älteren Freund missbraucht wurde und erst viel später mühsam Worte für die Zeit findet, in der ihre Kinderseele gestorben ist. Der Spanier, der erst in einem Hamburger Darkroom seine Sexualität erkunden gelernt hat. Der Pfarrer, der in der Dunkelheit des Beichtstuhls den Verfehlungen der Gläubigen zuhört.
Langweilig wird es für die Zuhörenden nicht, auch wenn es nichts zu sehen gibt. Denn gerade die Finsternis, die den Sehsinn ausschaltet, schärft alle übrigen. Ohne Ablenkung durch das Äußere ist die Konzentration auf das Gehörte möglich. Zu den Stimmen imaginiert man die Menschen, die hier im Schutz der Anonymität sprechen. Kein vorschnelles Urteil versperrt den Blick auf das Wesentliche, auf das Zuhören, auf das Hinhören, auf das Verstehen. Gleichzeitig ist man auf sich selbst und seine persönlichen Resonanzen mit dem Gehörten zurückgeworfen. Man darf die Schuhe ausziehen, sogar mehr, wenn man möchte, wie der Darkroombesucher vorschlägt. Auch die Zuhörenden genießen den Schutz der Anonymität für diese 90 Minuten und dürfen sich ihren eigenen Empfindungen hingeben. Es wird so ein ganz persönlicher Abend, der mit einem Teller Suppe, bei dem die Erfahrungen gemeinsam reflektiert werden können, ausklingt. Das Zuhören und Verstehen geht weiter. Ein schlichter, dennoch intensiver und konzentrierter Abend.
Birgit Schmalmack vom 16.4.24