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Realität gibt es nur in der Mehrzahl

Angela, Volksbühne Julian Roeder



Das Spruchband über der Bühne verrät: Dieses Stück beruhe auf einer wahren Geschichte, fuße auf zahlreichen Interviews und Aufzeichnungen. Doch das ist wohl im Laufe des Abends an der Volksbühne immer mehr in Zweifel zu ziehen.

Angela leidet an einer Autoimmunerkrankung, die ihren 37-jährigen Körper unerwartet und unmissverständlich auf ihr Bett geworfen hat. Ihre Umgebung reagiert beschwichtigend, überfordert, hilflos bis gleichgültig. Alles wird gut, versucht die Mutter zu beruhigen. Ihr Freund Brad versucht ihre Krankheit durch Stillschweigen zu negieren und die Freundin rät zu einer krassen Party, um sie aufzuheitern. Angela zappelt ein wenig auf ihrem Stuhl, die Freundin fragt: Geht’s dir jetzt besser? Angela grinst gezwungen und fällt in sich zusammen, als die Tür hinter der Freundin wieder ins Schloss knallt. Überhaupt: Angelas Apartment scheint eine Durchgangsstation für die Personen zu sein, die sie aufsuchen. Ständig gehen die Türen rechts und links von ihrem Küchentisch auf und zu, ständig schneien die Leute zu ihr herein, fragen vorgeblich interessiert nach ihrem Befinden, gehen aber sogleich wieder, wenn sie merken, Angela geht es nicht besser. Erst als eine kahlgeschorene Frau mit einem umgeschnallten Geigenkasten, der wie Pfeil und Bogen wirkt, hereinkommt, ändert sich dies. Denn diese Person bleibt. Sie setzt sich wie ein weiblicher Buddha an die Feuerstelle am linken Rand und weist Angela neue Wege. Erst eine Neugeburt könne ihr helfen. Angela lässt sich von dem weiblichen Buddha entführen und geht buchstäblich durchs Feuer. Aus der Asche entsteht eine neue Angela, die leicht derangiert wieder zur Tür ihres Apartments hereinkommt. Nun ist sie bereit, das loszulassen, was in ihrem Inneren schlummert und sie so belastet: Aus ihrem Mund ziehen Mutter, Freund und Freundin eine kleine Blase mit einem winzigen Embryo. Sofort ergreift die Mutter dieses Etwas und pflegt es ab da voller Fürsorge. Wenig später ist es gewachsen, wird gestillt, liegt aber immer noch in seiner Blase. Wer wurde hier wiedergeboren? Die Mutter ist überzeugt: Meine Angie, mein Engel. Gleichzeitig ist die erwachsene Angela scheinbar wieder gesund und die Mutter legt sich anstatt ihrer ins Bett. Keine Sorge, ich sterbe nur. Also eigentlich nur ein und dieselbe Person?

Der Eindruck, dass diese Geschichte also beileibe nicht nur in der Realität spielt, legt auch die Bühneninstallation nahe. Kennedy setzt ihre Darsteller:innen in eine Virtual-Reality-Umgebung, die immer wieder verschwimmt und vom Realistischen ins Magische hinübergleitet. Zuerst in einem Einzimmerapartment mit einer realistisch wirkenden Küchenzeile und einem klackernden Ventilator, verwischen später immer wieder die Konturen und wandeln sich mal in eine mit Graffiti besprühte Tunnellandschaft, mal in ein Feuermeer mit anschließendem Ascheregen, dann in eine phantastische Landschaft, die Hoffnung aussendet, und schließlich wieder zurück ins Apartment. Doch nie lässt Kennedy den Zuschauenden im Klaren darüber, auf welcher ihrer vielen Ebenen man sich gerade befindet. Die Trennung zwischen Realität und Fiktion ist nur eine gedachte Linie, sie existiert in dieser sogenannten Wirklichkeit nicht.

Lässt man sich auf das Anfangssetting ein, dann könnte das durchaus Sinn machen. Wirft eine unerklärliche Krankheit einen Menschen doch in eine Realität, die sich von der der anderen grundsätzlich unterscheidet. Umso mehr, wenn die klare Diagnose ausbleibt. Wo die Schulmedizin versagt, kommen dann gerne psychologische oder esoterische Erklärungsversuche ins Spiel. Doch Kennedy verweigert sich auch dieser Interpretationslinie. Denn die Wiedergeburt, die sie auf der Bühne abspielen lässt, erlaubt keine stringenten Deutungsmuster. So legt sie für die fasziniert Zuschauenden, die in ihren Strom der Geschichte mit ihren vielen verschlungenen Pfaden hineingezogen werden, immer wieder neue Verständnisangebote aus, die im nächsten Augenblick schon wieder revidiert werden müssen. Denn sobald das Leben bzw. der Körper nicht so funktioniert, wie die Umwelt es erwartet, ist der Mensch auf Fragestellungen zurückgeworfen, auf die sich in der Regel keine eindeutigen Antworten finden lassen. Eine Situation, in der der Mensch immer wieder mit seinem Nichtwissen konfrontiert ist, auch wenn der Zeitgeist gerne die Erzählung des alles Plan- und Machbaren verbreitet. Kennedy plädiert hier ganz klar für das Zulassen des Uneindeutigen und Unkontrollierbaren. Das steht allerdings in spannendem Kontrast zu ihrer Einbindung der Schauspieler:innen (Diamanda La Berge Dramm, Ixchel Mendoza Hernández, Tarren Johnson, Dominic Santia, Kate Strong). Sie sprechen synchron zum Playback ihrer eigenen Stimmen. Jede Spontaneität und Tempoveränderung ist damit ausgeschlossen. So ist jeder Moment dieser Inszenierung bis in die letzte Sekunde durchkalkuliert. Damit hat Susan Kennedy einen so eigenen Stil entwickelt, dass ihre Handschrift stets klar erkennbar bleibt. Beeindruckend konsequent und eigenwillig. Schade nur, dass beim erneuten Gastspiel in der Volksbühne so viele Plätze frei blieben.

Birgit Schmalmack vom 5.4.24

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