Textversion
Sie sind hier: Startseite

Durchlebte Verwandlung

Das 13. Jahr, DSH Erich Goldmann

Das 13. Lebensjahr ist im Leben jedes Menschen etwas Besonderes. Halb Kind, halb Erwachsene, schon geprägt, doch noch offen. In dieses spezielle Alter versetzt jeden Besuchenden die Performance-Installation von Signa "Das 13. Jahr", die sie in einer Halle von Thyssen Krupp eingerichtet haben. An der Garderobe muss jede und jeder schon alles Persönliche abgeben, bevor es in den Vorraum geht. In diesem neutralen Raum werden von drei Assistent:innen der Lethegruppe die Instruktionen erteilt. "Nicht spielen sondern fühlen!... Künstliches als echt annehmen!" Und wichtig: Der Notfallknopf für den Ausstieg wird erklärt.

Dann beginnt die Verwandlung. Als 12-Jährige ausgesetzt von einem Busfahrer, der plötzlich verschwunden ist, landen wir 40 Besuchenden in einem nebligen Bergdorf. Kaum ist man durch den schmalen grauen Gang gelaufen, ist die Temperatur um 10 Grad gefallen, das grelle Neon-Licht ist ausgeschaltet, der Himmel nach oben durch eine Gazedecke abgeschirmt. Für die nächsten Stunden wird es nie richtig hell werden, denn der dichte Nebel hüllt alles in einen gedimmten Dämmer, egal ob es Tag oder Nacht ist. Als die Kälte gerade anfängt in den Körper zu schleichen, kommen Menschen aus den zehn kleinen, dicht gestellten Hütten heraus und greifen sich jeweils vier von uns und ziehen sie in ihre winzigen Behausungen. Sofort werden Decken herausgezogen und Tee eingeschenkt. Danach werden die Reste der eigenen Persönlichkeit getilgt und die persönliche Kleidung gegen das beige-braune Einheitsoutfit im Dorf ausgetauscht. Die Hosen und Pullover sind alt, gebraucht und mit Löchern versehen. Sogar die eigenen Schuhe werden gegen derbe Stiefel ausgetauscht. So eingepasst in die neue Welt sitzt man nun zu sechst um den kleinen Tisch in der Wohnküche. Man werde zusammenrücken, um die Kinder zu retten vor dem sicheren Tod, der ihnen außerhalb des Dorfes drohen würde. Erwin (Arthur Köstler) heißt mein Notvater. Er sei nicht der Hellste, aber ein ganz Lieber, verrät uns Eleonora (Jolina Schick), die mit ihm und der pflegebedürftigen Großmutter hier in dieser Hütte zusammenlebt. Sie ist nur ein Jahr älter als wir vier Neuen. Sie wird unsere Vertraute und Übersetzerin in dieser fremden Umgebung werden. So wie der gute Erwin als Erfahrenster in diesem Dorf uns die zahlreichen Regeln, Verbote und Vorschriften erläutern wird. Denn verboten ist hier vieles. Lachen, es reizt die Geister. Allein rausgehen auch, wer im Nebel verloren geht, kriegt das Nebelfieber, dass zu dem Zustand der vor sich Hinvegetierenden führt, die in jeder der Hütten herumliegen und nie wieder gesund werden. Noch schlimmer ist der Habergeiß, der die Menschen zu ergreifen droht. So sind wir froh, dass wir bei Erwin gelandet sind. Nach einer kurzen Verzweiflung, dass wir hier unwiderruflich gefangen sind und keine Rückkehr mehr möglich ist, fügt man sich seinem Schicksal. Typisch 12-Jährige, noch nicht mit dem Rebellentum angefixt, versuche ich mich einzupassen, mich einzufügen, die Regeln schnell zu lernen, mich schnell einzufügen. Freue mich, wenn ich gelobt werde, dass ich die Kartoffeln gut geschält habe, und bin vorsichtig, wenn Eleonore uns zu Heimlichkeiten gegenüber Erwin anstiften will. Während Lukas und Anton mit hinausgehen, bleibe ich mit Johann lieber in der von Erwin geschützten Hütte. So verpassen wir das Ritual, das sich direkt auf dem Spielplatz vor unserem Küchenfenster abspielt. Es wirkt exorzistisch und übergriffig, was dort mit einem halb entkleideten Mädchen in der Mitte geschieht, umkreist von gefühlt allen Jugendlichen im Dorf.
Doch in die kleine Raucherhütte kommen auch wir mit und lassen uns ausfragen über den ersten Kuss, über das erste Verliebtsein, über die erste Zigarette. Eleonora ist die Erfahrenere, die uns einführt in das Erwachsenenleben hier unter den speziellen Bedingungen des Dorfes. Besuche in den anderen Hütten, in den anderen Notfamilien sorgen für Abwechselung in dem öden Nebeldorfleben und geben Einblicke in die anderen Hüttenleben. Die Frau (Ute Hannig), die dem Alkohol gut zuspricht. Der Mann (Lars Rudolph), der immer wieder ausrastet. Der Lehrer (Andreas Schneiders), der Mathestunden gibt und uns seinen Hund streicheln lässt. Die Versorgung wird durch einen Handelsmann gesichert, der nachts kommt. Er bringt Rüben, Kartoffeln und Toilettenpapier mit. Doch wenn das letzte Wertvolle aus dem eigenen Vorrat versetzt worden ist, schreibt er Punkte auf das Schuldenkonto. Wie die Schuld je abzubezahlen ist, bleibt ein Geheimnis und es geht das Gerücht um, dass Kinder als Beute dafür mitgenommen werden. Eine ominöse dunkle Frau (Signa Köster) macht rundum Zauberspielchen in den Hütten, um Schulden zu erlassen oder die, die die Schuld übernehmen müssen, mit schwarzer Farbe zu markieren. Auch unsere Eleonora erhält solch ein schwarzes Zeichen. Als der gute Erwin das sieht, reibt er sein Gesicht so lange an ihr, bis er die Schuld übernommen hat.
Es ist erstaunlich, schon noch kurzer Zeit, fühle ich, dass ich eingewoben bin in dieses dichte Geflecht an Regeln, Wärme, Menschenfreundlichkeit, Verzweiflung, Enge, Geborgenheit, Bedrohung und Schutz. Das Signa-System hat wieder seine Wirkung entfaltet. Die Stunden vergehen im Fluge. Die Nacht kommt, man rückt in den zwei Betten zusammen. Die bedrohliche Geräuschkulisse wird immer unüberhörbarer. Man ist froh in dieser Enge beschützt zu werden. Dann droht ein Gewitter und ein Liedritual soll es noch abwenden. Alle ketten sie sich mit einem Seil aneinander und singen gemeinsam stampfend das einstudierte Lied. Dann ist es vorbei. Die Simulanten schlafen wieder ein und die Stimme aus dem Lautsprecher kündigt an: Die Simulation ist vorbei. Die De-Simulation begänne in wenigen Minuten. Wir ziehen schweigend wieder unsere Alltagsklamotten an und gehen zurück durch den Gang in den Vorraum, in dem uns die Assistenten der Lethegruppe empfangen. Wir werden wieder in unseren eigenen Körper zurückgeführt, jedes Körperteil einzeln. Doch dann öffnet sich die Tür und Erwin stürmt herein. "Wo sind meine Kinder?" Erwin will uns retten, er hat uns nicht vergessen. Er rast auf mich zu und will mich hochziehen. Ein Gefühl der Wärme durchströmt mich. Doch einer der Assistenten zieht Erwin wieder heraus. Und ich bin wieder alleine und muss mich dem Leben draußen stellen.
Birgit Schmalmack vom 2.1.24