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Nichts ist gewaltiger als der Mensch

Antigone, DSH Foto: Thomas Aurin

Der Staub, mit dem Antigone ihren toten Bruder bedecken will, ist weiß und überall. Niemand bleibt vor ihm verschont. Wie Mehl legt er sich auf alle, die mit Antigone zu tun bekommen und zu ihr auf ihr weißes Kraftfeld in der Mitte der Bühne gezogen werden. Ihr gegenüber müssen sie sich positionieren. Ihre Maßlosigkeit, wie ihre Schwester Ismene (Josefine Israel) es nennt, sei es, die die Reaktionen der anderen herausfordere. Denn Antigone traut sich etwas, was sonst keiner wagt. Sie widersetzt sich dem Gesetz des neuen Herrschers Kreon (Ernst Stötzner). Er will nur den einen der gefallenen Brüder mit der Ehre eines Begräbnisses versehen, den anderen, den Angreifer der Stadt, will er den wilden Tieren zum Fraß vorwerfen. Doch das kann Antigone nicht geschehen lassen. Obwohl sie weiß, dass ihre Bedeckung des toten Bruders mit Erde mit ihrem Tod bestraft werden wird, stellt sie das Gebot eines Begräbnisrituals über das spontan erlassene Gesetz des neuen Königs. Es prallen die Vorstellungen zweier Menschen aufeinander, die sich jede:r völlig im Recht glauben. Der König will mit der Durchsetzung seines erlassenen Verbotes die Ordnung wiederherstellen, die seiner Meinung nach die Spirale aus Gewalt, Mord, Inzest und Rache, die wie ein Fluch auf dieser Herrscherfamilie, aus der auch Antigone stammt, liege und die Stadt zerstört habe. Er glaubt, dass mit dem Ende dieser Familie in Theben nun auch die Unordnung ein Ende haben wird. Deswegen will und kann er in Bezug auf Antigone keine Ausnahme machen, obwohl sie seine Schwiegertochter werden soll. Sein Sohn Haimon (Maximilian Scheidt) ist mit ihr verlobt. Als er sich für sie einsetzt, kann auch er seinen Vater nicht umstimmen. Sein Vater kommt ihm vor wie ein starrköpfiger Tyrann, der keinen anderen Gedanken außer seinem eigenen zulassen würde. Doch während sonst Antigone häufig als die klug Argumentierende gezeigt wird, die mit Kreon um die besten Begründungen streitet, ist sie hier bei Lilith Stangenberg eine, die sich selbstironisch fragt, ob sie wohl noch richtig ticken würde. Sie tobt und wütet, statt zu diskutieren. Sie pulverisiert die Kreidesteine zu Staubwolken, sie wirbelt mit ihrem Mantel hohe Nebelschwaden auf. Sie ist von ihrer Ich-Inszenierung völlig überzeugt. Sie ist so stolz auf ihre Todesmütigkeit, die alles für ihren Bruder hergibt, dass sie sich selbst auf einen Sockel setzt. Sie stellt sich ebenso wenig in Frage, wie Kreon das tut. Sie ist eine Frau, die Staub aufwirbelt, an der keiner vorbeikommt, die in ihrer Überzeugungsstärke an Kreon gleichkommt. Sie setzt ihr Leben dafür aufs Spiel. Mit dem Tod rechnet sie. Aber als Kreon sie stattdessen lebendig begraben will, weint sie minutenlang wie ein Kind.
Dass es zu keinem ernsthaften Dialog kommt, ist nur konsequent, denn wie schon in den früheren Teilen dieser Fünfer-Serie werden alle Grundsätze einer wahrhaften Kommunikation missachtet, hört keiner richtig zu oder entwickelt Verständnis für sein Gegenüber, bzw. erst, als es zu spät ist. Als Kreon am Ende völlig verzweifelt seinen Berater (Ute Hannig) um Rat fragt und der ihm die Freilassung von Antigone empfiehlt, findet dieser nur noch zwei Leichen in ihrer Felsspalte. Neben der nackten, mit weißer Asche bedeckten Antigone den sich erdolchten Haimos.
Das war der letzte Teil der vernetflixten Serie von Karin Beier. Er zeigt klar, was Ute Hannig zu Beginn und am Schluss deutlich machte: „Gewalt zeugt Rache, Rache zeugt Gewalt." und: „Gewaltig ist vieles, doch nichts ist gewaltiger als der Mensch.“
Wenn im Epilog wie im Prolog der Rentner-Tourist (Michael Wittenborn) in seinem braun-beigen Freizeitoutfit seine Bemerkungen zu dem Gesehenen dem Publikum mitteilt, betrachtet er das Ganze wie ein Reisender, der resigniert Distanz zu diesen menschlichen Fehlleistungen einnimmt. Die Menschen können anscheinend nicht anders. Doch was sähe wohl Europa, wenn sie sich jetzt umsehen würde? Mit dieser Frage entlässt er das Publikum aus dieser Spurensuche nach den Wurzeln einer möglichen Zivilisation.
Birgit Schmalmack vom 2.1.24

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