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Die Rache der Tiere

Drive Your Plow Over the Bones of the Dead Fotocredit: Marc Brenner

Janina, die es hasst, wenn sie bei diesem Namen gerufen wird, gilt als die komische Alte in ihrem winzigen Dorf. Von Zeit zu Zeit überfällt sie ihr Leiden, wie sie es nennt. Dann hat sie Schmerzen überall in ihrem Körper. Dann braucht sie Dr. Alis helfende Hände und seine Schmerzmittel. Oder einen imaginierten Reißverschluss, der sie von oben bis unten öffnet und sich wie eine Qualle fühlen lässt, die sich im Wasser auflösen kann.

Sie lebt mitten in einer idyllischen Natur, doch sie ist umgeben von Menschen, die aus ihr nur Profit schlagen wollen und die sie zu ihrem Vergnügen ausbeuten. Naturliebhaber oder Naturschützer leben hier nicht. Der direkte Kontakt zur Natur bringt keine besseren Menschen hervor. Im Gegenteil. Warum steht das Töten von Menschen unter Strafe, aber nicht das von Tieren? Alles das widert sie an. Doch so oft sie sich auch an die Polizei oder die Behörden wendet, hört sie nur "nicht zuständig" oder "alles völlig legal".

Amanda Hadingue gibt die "Alte" mit großer Wärme, Empathie, Entschlossenheit und Sturköpfigkeit. Alle Sympathie ist von der ersten Sekunde auf ihrer Seite, nachdem sie mit ihrer Plastiktüte, in Jogginghose und gelber Daunenjacke aus dem Zuschauerraum auf die Bühne geklettert ist, ein paar Zeilen Blake zitiert und dann loslegt, ihre Geschichte zu erzählen. Dafür ergreift sie an diesem Abend das Mikro. Es ist ihr wichtig, dass sie hier ihre eigene Sicht auf die Welt darbieten kann.

Eines Nachts habe ein Nachbar an ihre Tür geklopft: Der Nachbar zur anderen Seite, Bigfoot, sei tot. An einem Rehknochen erstickt. Sollten sich die Rehe an dem passionierten Jäger und ihrem Mörder gerächt haben? Janina ist fasziniert von dieser Idee. Nicht sie sei verrückt, wie die meisten danach im Dorf behaupten, sondern die Menschen, die die Natur um sie herum zerstören. Denn Janina ist überzeugt, dass es zwar keinen Gott gibt, aber alles mit allem im Universum verbunden ist. Im Kleinsten sei das Grüßte zu finden. In unseren Haarwurzeln sei schon der Beginn unserer aller Entwicklung gespeichert und jedes Lebewesen sei genau so wertvoll wie der Mensch.

Kurz nach Bigfoots Tod geschehen im Dorf mehrere Todesfälle, mysteriös, immer sind Tierspuren um Umfeld zu sehen. Janina kann mit ihren Berechnungen beweisen, die sie auch der Polizei zur Verfügung stellt, dass ihnen dieses Unheil drohte. Denn sie ist bewandert in Astrologie. Was ihren Ruf im Dorf nur verstärkt. Doch als dann auch noch die Kirche, die dem Heiligen Hubertus gewidmet ist und zur Segnung der Jägergemeinschaft, also aus Sicht Janinas einer Gemeinschaft von Mördern, erbaut worden ist, eines Nachts brennt, schwant selbst ihren Freunden im Dorf, wer hinter all den Taten stehen könnte.
Wie die Londoner Company Complicité den Roman der polnischen Autorin Olga Tokarczuk über die mörderische Umweltaktivistin auf die Bühne bringt, ist absolut sehenswert. Auf der leeren Bühne entstehen mit dem Ensemble ganze Wälder, Hirschherden, Jäger auf der Pirsch, tratschendes Dorfvolk, Schulklassen, eine Kirchengemeinende und ein Planetensystem, nur mit Licht, Händen und Bewegungen. Das ist großes Erzähl- und Bildertheater mit einer herausragenden Hauptdarstellerin im Mittelpunkt. Amanda Hadingue spielt überzeugend eine Frau mit klarem Verstand und großem Herz, die engagiert für das eintritt, das sie als sinnvoll erkannt hat, die für ethisches Verhalten eintritt und die sich nicht den Mund verbieten lässt. Sie ist mutig und mit sich selbst im Reinen.
Wer hier die Sympathien des Publikums hat, ist klar. Für über zwei Stunden zumindest. Doch dann wird deutlich: Wir haben hier der Geschichte einer Mörderin gelauscht. Nicht die Tiere haben Selbstjustiz verübt, sondern Janina hat sich zu ihrem Werkzeug gemacht. Doch für ein moralisches Urteil der schnellen Art ist es da schon zu spät. Das Publikum ist dieser Frau in ihrem Denken gefolgt und kann sie nicht mehr einfach aburteilen. So auch nicht ihre Freunde, die ihr zur Flucht verhelfen, damit sie nicht im Gefängnis sondern in der Natur landet. Standing Ovations am Schluss. Völlig verdient. Was Simon McBurney hier mit seiner Londoner Company Complicité auf die Bühne des Thalia Theaters zaubert, ist großes Theater, das aus den Körpern und Stimmen des Ensembles ganze Bilder- und Vorstellungswelten auf der leeren Bühne entstehen lässt.

Birgit Schmalmack vom 1.11.23