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Flug in die eigene Nacht

Nachtflug Theater Das Zimmer


Welchen Wert hat ein Menschenleben? Im Namen welcher Werte darf man es opfern?
Diesen Fragen muss sich Rivière, der den Post-Luftfrachtverkehr Anfang der 1900-er Jahre organisiert, in dieser Nacht immer wieder stellen. Drei Postflieger sind für sein Unternehmen von drei Standorten in den schwarzen Himmel gestartet, um ihre Fracht von Südamerika nach Europa zu bringen. Doch dies geschieht zu einer Zeit, in der die Piloten in ihren kleinen Maschinen allein auf gute Sicht und guten Funkempfang angewiesen sind. Weitere Navigationsinstrumente stehen ihnen damals noch nicht zur Verfügung. Reißt beides ab, sind sie verloren, weil ihnen jede Orientierung abhanden kommt.
Doch zunächst scheint diese Gefahr in dieser Nacht nicht zu bestehen. Beste Sicht auf die Sterne in Buenos Aires, als der Postflieger Fabien losfliegt. Doch dann meldet sein Funker beunruhigende Nachrichten: Ringsherum Gewitterstürme. Die beiden Menschen sind in ihrer winzigen Maschine der Dunkelheit ausgeliefert, während ihr Treibstoff immer weniger wird und der Funkkontakt abbricht.
Am Boden versucht ihr Chef Rivière derweil mit seinem Team seinen Dienst zu tun und die Übersicht zu behalten. Doch auch wenn er sich um pragmatisches Vorgehen bemüht, mischen sich immer wieder Fragen nach der Verantwortung, dem Sinn und der Schuld in seine Überlegungen. Ganz besonders als es im Laufe der Nacht zu einer direkten Konfrontation mit der jungen Ehefrau von Fabien kommt. So muss er sich fragen: „Obwohl das Menschenleben unbezahlbar ist, handeln wir immer wieder so, als ob es etwas gäbe, das das Menschenleben an Wert übertrifft … Aber was?“
Im kleinsten Theater der Stadt "Das Zimmer" versucht das Team um Lars Ceglecki diesen Fragen mit ihrer Inszenierung der Novelle von Antione de Saint-Exupéry nachzugehen. Mit nur zwei Schauspieler:innen erzählt das Team die dramatischen Geschehnisse dieser Nacht. Dabei wechseln Erika Döhmen und Dominik Velz zwischen den Schauplätzen und Rollen ständig hin und her. Klettern sie auf die Leitern oder die Palettenstapel, werden sie zu den beiden Flugzeuginsassen hoch oben in der Luft. Setzen sie sich unten an den improvisierten Tisch aus zwei Böcken und einer Platte, werden sie zum Team um Rivière. Das ist zu Beginn etwas verwirrend, erschließt sich aber nach ein paar Szenenwechseln.
Oben in der Luft werden ganz andere Fragen verhandelt als unten auf dem sicheren Boden. Oben kämpfen Fabien und sein Funker mit aller Kraft um ihr Überleben, ahnen aber schon bald die Ausweglosigkeit ihrer Bemühungen und fliegen durch ein Wolkenloch hoch in die Stille und Ruhe über den Wolken. Genau wissend, dass jetzt die Rückkehr auf die Erde noch unmöglicher geworden ist. Sie erleben Momente der Schönheit und Klarheit in der endlosen Weite, die sie im wahrsten Sinne dem Himmel nahe sein lassen. Sie blicken in die Weite des Universums, die sie für einige Augenblicke ihre Ängste allen Irdischens vergessen lassen.
Dagegen werden im Büro von Rivière hektisch Telegramme gelesen, Telefonate geführt, Funksprüche versucht, Zeitpläne abgeglichen und Treibstoffvorräte ausgerechnet. Das Wissen um die Hoffnungslosigkeit ihrer Rettungsversuche spült die Fragen nach der Verhältnismäßigkeit des Geschäftskonzeptes nach oben. Darf man Menschenleben opfern, um einen wirtschaftlichen Vorteil zu erzielen? Ist es gerechtfertigt, Piloten in die nächtliche Dunkelheit zu schicken, nur um Postsendungen schneller als die Konkurrenz versenden zu können, obwohl die Sicherheitstechniken dafür noch nicht zur Verfügung stehen? Doch während oben mit entrückter Gelassenheit das eigene Schicksal akzeptiert wird, kommt Revière unten zu dem vorläufigen Schluss: "Es gibt keine Lösungen im Leben. Es gibt Kräfte in Bewegung, die muss man schaffen, die Lösungen folgen nach.“ Also: Um den Fortschritt der Menschheit zu sichern, müssen Wagnisse eingegangen werden.
In einer Zeit, in der der Kapitalismus unser aller Leben fest im Griff hat und in der der Fortschritt, der durch die Wagnisse der Menschheit erzielt worden ist, den Erhalt der Erde gefährdet, sind diese Fragen mehr als aktuell. Das Bühnenbild zeigt eine Situation der Vorläufigkeit und der Transformation. Ein Fensterrahmen mit bodentiefem Ausblick auf eine Altbaufassade des gegenüberliegenden Hauses ist zu sehen. Er ist halb mit einer Plastikplane verhängt. Davor stehen Leitern, Paletten und ein improvisierter Arbeitstisch aus zwei Böcken und einer Holzplatte. Man könnte an ein Start-Up denken, das inmitten der laufenden Renovierung der Räume am Geldverdienen arbeitet. Oder eine Aktion im Rahmen der Gentrifizierung. Doch diese Assoziationen bleiben abstrakt, da die Darsteller:innen in ihrem Spiel ganz in der Vergangenheit bleiben. Ceglecki traut offenbar seinem Publikum zu, eigene Schlüsse aus dem Gesehenen zu ziehen.
So kann dieser Abend auf mehreren Ebenen funktionieren. Einerseits kann man es als ein spektakuläres, spannendes Drama des Ringens zwischen Leben und Tod, zwischen Erde und Himmel sehen. Auf der zweiten Ebene kann man sich mit Rivière über den Wert eines individuellen Menschenlebens Gedanken machen. Und schließlich könnte man sich über das Gezeigte hinaus auch Fragen nach unserer Verantwortung heutzutage stellen. Denn heute werden vielleicht nicht nur einzelne Menschenleben auf dem Monopoly der Wirtschaftsinteressen verspielt sondern ganze Lebensbereiche auf dieser Erde. Und genau dieser Aspekt macht den Stoff von Saint-Exupéry immer noch lesens- und sehenswert.
Birgit Schmalmack vom 12.11.23