1984

1984 im Sprechwerk by Konstanze Ullmer

Überwachungsstaat

Auch die Benutzung der Wörter wird von Big Brother überwacht. Denn wenn die Sprache erst von allen überflüssigen Wörtern bereinigt sein wird, werden sich auch die Gedanken ebenso schlicht formen lassen. Dann ist kein Gedanke mehr frei. Selbst ein Ministerium der Liebe gibt in dem Überwachungsstaat von Big Brother. Auch hier geht es um die Ausmerzung, denn Liebe ist ein gefährliches Gefühl. Sie setzt im Menschen Kräfte und Begierden frei, an denen ein totalitärer Staat kein Interesse haben kann. Er propagiert lieber die Zweckehe zur Aufzucht von Neubürgern für das Vaterland. Die genaue Taktung des Tagesablaufes und ständige Versorgungsengpässe belassen die Bürger in einer Abhängigkeit vom Staat. Ein Krieg schweißt die Volksgemeinschaft zudem zusammen.
All diese Lenkungsmittel hat George Orwell in seinem legendären Buch „1984“ zur Vision einer totalen Kontrolldiktatur zusammengefügt. Wie aktuell es ist, will Konstanze Ullmer jetzt mit ihrer Inszenierung am Hamburger Sprechwerk deutlich machen. Sie schneidet in die Textfassung von Pavel Kohout immer wieder Texte, die aus der digitalen Jetztzeit stammen. Sie scheinen sich fast nahtlos in den Original von 1949 zu fügen. In unserer weltweit vernetzten Internetwelt lassen sich die Visionen, die Orwell vor fast 70 Jahren hatte, technisch sofort umsetzen. Deshalb tritt der Widerständler Winston (Tobias Kilian) immer wieder an die Rampe und richtet seine Monologe als Appelle an das Publikum.
Ullmer lässt sich in der ersten Hälfte sehr viel Zeit die Handlung aufzubauen. Sie schildert ausführlich den Alltag unter Big Brother. Das bot Muße sich in die Atmosphäre einzufühlen, nahm aber Längen zu Kauf. Erst mit dem Beginn der Liebe zwischen Julia (Ines Nieri) und Winston gewinnt das Drama an Fahrt. Nach der Pause fokussiert sich Ullmer sogar ganz auf die Liebesgeschichte, die das Regime nicht dulden kann, weil sie in ihrem Kern umstürzlerisch ist.
Diese Inszenierung punktet mit eindrucksvollen, großformatigen Videoaufnahmen, die die Masse der Untertanen visuell auf die Bühne bringen, mit hervorragenden Schauspielern, die sowohl die Unterdrückung, die Anpassung, die Einrichtung, und den aufkeimenden Widerstandes mit allen Nuancen zu zeigen verstehen, mit einer schlichten, aber effektiven Bühnenausstattung und mit anregenden Dialogen.
Zum Schluss sitzt Winston als Mensch von heute im Kino und schaut sich einen Zusammenschnitt der Nachrichtenlage von 2014 aus Kriegen und Enthüllungsskandalen an. Er begreift schlagartig die Gefahren der totalen Durchleuchtung und flüchtet aus dem Saal. Noch im Rausgehen schaltet er sein Smartphone ab. Diese Übertragung war sehr direkt gewählt. Etwas mehr Zutrauen zur selbstständigen Meinungsbildung der Zuschauer hätte man sich gerade bei diesem Stück schon gewünscht.
Birgit Schmalmack vom 2.9.14