Die Sphinx schreit
Es könnte früher Morgen gewesen oder später Vormittag, vielleicht auch früher Nachmittag, oder nein, es dämmerte schon bzw. war tiefschwarze Nacht. Sicher ist hier nichts. So viel ist sicher. Doch irgendwann ereignete sich das tragische Zusammentreffen zwischen Sohn und Vater, zwischen Ödipus und Laios. Zumindest das weiß man. Dabei werden alle möglichen Vorgeschichten, die Lina Beckmann hier in "Laios" auf der großen Bühne des Schauspielhauses in Personalunion präsentiert, davon handeln, genau dieses Aufeinanderprallen zu verhindern.
Roland Schimmelpfennig füllt in seiner Überschreibung des antiken Tragödienstoffes eine Leerstelle auf und hat damit ideale Voraussetzungen, um seinen Spekulationen freien Lauf zu lassen. Über Laios ist nicht viel bekannt. So darf Lina Beckmann ins Fabulieren geraten. Sie entwirft eine Lebensgeschichte Laios, nein, sie entwirft eine Vielzahl von möglichen Biografien, deren Ende aber schon von vornherein klar ist: Laios wird durch die Hand seines Sohnes sterben, obwohl oder gerade weil er genau dies mit allen Mitteln zu verhindern suchte. Einer Prophezeiung einer alten Imbissbesitzerin zufolge, die sie mit einer Zigarette im Mund mehr aushustete, als weissagte, wird genau das passieren. Zunächst wollte das frisch verliebte Paar aus Iokaste und Laios, das gerade mit dem Motorroller durch das nächtliche Theben sauste, diese Prophezeiung einfach ignorieren. Schließlich, ein Königspaar ohne Kinder, wie sollte das gehen? Doch der Bauch der Königsgattin schwoll an und die Angst vor dem drohenden Unheil ebenso.
Gemeinsam durchbohrten sie die Füße des frisch Geborenen, banden sie zusammen und setzen das Kind aus. Es scheint sich etwas zu wiederholen, denn, was man bisher nicht wusste, auch Laios hatte eine schwere Kindheit mit einem ähnlichen Schicksal hinter sich. Auch er wurde als Kleinkind in der Wildnis ausgesetzt und war mehr Tier als Mensch, bis ihn eine Jagdgesellschaft fand und mit nach Olympia nahm. Noch eine Überraschung: Laios schwärmte eher für Jungs als für Mädchen. Doch seine Vorliebe war dort nicht gern gesehen, so machte er sich wieder auf den Weg nach Theben. Oder waren es doch die Bürger Thebens, die ihn wieder zurückriefen? Wer weiß das schon? Lina Beckmann jedenfalls nicht so genau. Egal, Hauptsache Laios Geschichte bleibt am Rotieren. Wild werden die Zeiten gemischt. Vergangenheit mengt sich mit Gegenwart und Zukunft. Da stehen im antiken Theben plötzlich Hochhäuser, fahren Scooter neben Pferdekarren, werden Fotos auf Instagram gepostet oder endlich den Menschenopfern abgeschworen.
Doch dann gibt es da oben hoch am Himmel noch diesen Vogel, nein eine Katze, aber mit Flügeln, oder doch eher eine Frau mit einem Katzenkörper und breiten Schwingen, die durchgehend schreit, und zwar in Laios Kopf. Die Sphinx lässt ihn nicht los. Sie verfolgt ihn, bis zum finalen Treffen zwischen Vater und Sohn an der Weggabelung, auf das alles zuläuft.
Lina Beckmann spielt alle Personen dieses Dramas - und man hat das Gefühl, sogar gleichzeitig. In Bruchteilen von Sekunden wechselt sie die Körperhaltung, ihren Sprechduktus, ihren Gesichtsausdruck. Und stellt all das im selben Moment auch wieder infrage. Mit einem spitzbübischen Augenaufschlag scheint sie dann zu sagen: Ihr glaubt mir doch nicht etwa, oder? Um sich daraufhin mit großem Ernst und bezwingender Überzeugungskraft in die nächste existenzielle Gefühlsaufwallung zu stürzen. Dann bebt ihre Unterlippe vor Rührung, dann laufen ihr die Tränen aus den Augen, da rinnt ihr der Rotz aus der Nase. Entschlossen wischt sie alles wieder beiseite und wirft sich in die nächste Fantasiereise. Ihre stimmliche, aber auch ihre körperliche Variationsbreite ist einmalig. Falls man es noch nicht wusste: Mit diesem Stück hat sie bewiesen, dass Beckmann zur absoluten Spitzenklasse der Schauspielkünstler:innen gehört. Man muss lange grübeln, bis einem jemand einfällt, der ihr in dieser Virtuosität das Wasser reichen könnte. Vom Kleinkind bis zum Hochbetagten, von schutzbedürftig bis aggressiv, von männlich bis weiblich, von lasziv bis gehemmt, von dramatisch bis komödiantisch, Lina Beckmann kann alles, und zwar im sekundenschnellen Wechsel innerhalb von neunzig Minuten und ist in jeder Phase absolut überzeugend. Verdiente Standing Ovations am Schluss.
Karin Beier nutzt dieses Schauspieltalent ihres Ensembles für diesen zweiten Teil ihres Fünfteilers in vollen Zügen aus. Sie lässt Beckmann ihren Raum und gibt ihr gleichzeitig mit Sinn fürs Tempo und für Dramaturgie sehr gekonnt Führung. Ein Fest fürs Theater, das zeigt, worauf es ankommt. Nicht immer auf die große Show, auf viel Tamtam, wie im ersten Teil, sondern auf Schauspielerinnen, die in Welten entführen können, die ganze Städte auf der leeren Bühne aufbauen, wieder zerstören, um neue entstehen zu lassen. Wenn dann dafür eine Lina Beckmann auf der Bühne steht, gelingt diese Magie.
Zur Kritik von
ndr |
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