Kurzkritiken zu Weideraufnahmen
Schauspielhaus
Die Dreigroschenoper
Der Mensch an sich ist schlecht
Eine öde Steinwüste ist die Erde, auf der die Menschen ihr Leben fristen müssen. In hautfarbenen Trikots ohne jede Verkleidung kommt ihre Natur gnadenlos zum Vorschein. Und die ist schlecht.
Berthold Brecht weiß, warum: "Zuerst kommt das Fressen, dann die Moral". Nur Gaunerei und Korruption füllt die Mägen.
Zwischen zwei Gerüsten steigt ein Gitterkäfig beständig nach oben. Mackie Messer (Tim Grobe) bezieht auf seinem Dach Stellung, von dem es lange Zeit so aussieht, als wenn der Fahrstuhl ihn direkt an den Galgen und damit wohl eher in die Hölle bringen würde. Doch ein unerwartetes Happy-End am Schluss erlaubt allen Menschen, ab arm oder kriminell den Aufstieg bis in den Bühnenhimmel. Die Musiker sind Teil der Bühne und blasen mitunter den Schauspielern direkt den Marsch. Durch frei improvisierte Überleitungen wird Weills Musik intelligent weitergedacht. Regisseur Jarg Patakis gewinnt der Dreigroschenoper eine abstrakte, neue Sichtweise ab. Stilisiert nimmt er den Figuren zwar ihre Persönlichkeit, aber schenkt ihnen dafür eine artifizielle Universalität, die jedem folkloristischen Ansatz vor vornherein eine Absage erteilt. Tolle Inszenierung!
Jan Plewka singt Rio Reiser
Der Traum ist aus, aber ich werde alles tun, damit er Wirklichkeit wird.
Rio Reiser wollte die Welt verändern. Dafür ging er mit seiner Band "Ton, Steine, Scherben" auf die Bühne und forderte: "Keine Macht für Niemand!" Wie romantisch seine Ideale waren, macht nun Jan Plewka in seiner Show im Schauspielhaus deutlich. Ungeheuer zärtlich, liebevoll verkörpert er den zarten, rebellischen Träumer, in dessen gebrochener Stimme, die heiser ihre Sehnsüchte heraus schreit, schon der Verlust der Hoffnung mit anklingt. "Der Traum ist aus, aber ich werde alles tun, damit er Wirklichkeit wird." Jan Plewka erzeugt mit seiner Band "Schwarz-rote Heilsarmee" eine Stimmung auf der Bühne des Schauspielhauses, die einen auf den Sitzkissen enger zusammenrücken lässt.
Das ist ein Abend zum Träumen, zum Schwelgen in einer Welt, die Rio Reiser sich so gewünscht hätte.
Mein Essen mit Andre
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Zwei alte Freunde, die sich Jahre lang nicht mehr getroffen haben, sind zu einem Abendessen in einem Lokal der Oberklasse verabredet. Die Rollen sind von Anfang an klar verteilt: Der eine – der berühmte New Yoker Theaterregisseur André Gregory (Jörg Knebel)- redet, gestikuliert und erzählt, der andere - Wallace Shawn (Janning Kahnert) - nickt zustimmend, schaut fragend und hört ansonsten zu. Auffällig ist dabei, dass André von seinem Wunsch nach Stille, vom Schweigen, von Intuition und Aufmerksamkeit spricht. Und dabei ohne Punkt und Komma auf den Anderen einredet. Als sein Gegenüber zum Schluss einem eigenen Standpunkt wagt, wird der Kellner sofort zum Bringen der Rechnung aufgefordert. Kritische Selbsterkenntnis, die mit lautstarkem Selbstmitleid gepaart ist, scheint nicht vor den Fallstricken der New Yorker Verhaltensmuster zu schützen. In der Bar des Maritimhotels hat Dominique Schnizer die Verfilmung von "Mein Essen mit André" in Szene gesetzt. Die Kosten des Bühnenbildes wurden so aufs Eleganteste eingespart. Dank des intimen Rahmens und der sympathischen authentischen Präsenz der beiden Darsteller erfüllte sich die Befürchtung von Wallace zu Beginn nicht: Im Gegensatz zu ihm mussten sie nicht fürchten sich an diesem Abend zu langweilen. Sie konnten mit dem angenehmen Gefühl nach Hause gehen, zwei interessante Menschen persönlich bei einem Abendessen kennen gelernt zu haben.
Baumeister Solness
Aufstieg um jeden Preis
Nichts wirklich gebaut, nichts geopfert. Das ist die Bilanz von Solness in den letzten Minuten seines Lebens. Martin Kusej stellt sie ganz an den Anfang seiner Inszenierung von "Baumeister Solness" im Schauspielhaus. Solness (Werner Wölbern) schwebt im grellen Scheinwerferlicht hoch über den vielen kleinen weißen Baukastenhäusern, die die Bühne unter ihn bedecken. Durch den Brand in dem Elternhaus seiner Frau kam er zu Bauland und als Bauunternehmer zu seiner Karriere. Doch seine Frau litt unter dem Verlust ihres Zuhause so sehr, dass kleinen Zwillingssöhne starben. Solness fühlt sich schuldig. "Du musst ein glücklicher Mann sein", meint die 22-jährige Hilde (Catharina Schmidt) zu ihm. 10 Jahre nachdem er sich an der kleinen unschuldigen "Prinzessin" vergangen hat, ist sie gekommen, um die Gegenleistung einzufordern. Keck versteckt sie in kurzen Hotpants ihre eindringlichen Forderungen hinter einer anhimmelnden Ergebenheit des berühmten Baumeisters. Sie treibt Solness vor sich her und zuletzt auf den neu erbauten Turm - wohl wissend, dass er unter Höhenschwindel leidet.
In der letzten Szene stehen alle Personen auf den Baukästen und beschreiben Solness Aufstieg. Das Ende ist schon vorweggenommen. Solness liegt während ihrer Beschreibung bereits tot auf einem der Bürotische. Sein Todesengel hat ihn zu hoch hinauf getrieben.
Das Käthchen von Heilbronn
Einsame Idealistin
Ein dunkler Weg öffnet sich auf der Bühne. Der schwarze Laufsteg führt ein weißes Viereck zu. Diese schlichte, schwarz-weiße Spielfläche steht den Personen zur Verfügung. Klar abgrenzt sind deren Handlungsspielräume. Und doch die gezeigte Geschichte handelt gerade davon, wie eine junge Frau versucht, diese zu durchbrechen.
Das Käthchen von Heilbronn (Jana Schulz) ist aufgrund eines Traumes davon überzeugt, dass Graf Wetter vom Strahl (Guntram Brattia) der für sie vorbestimmte Ehemann sein soll. Ungeachtet der Standesunterschiede, der Wünsche ihres Vaters und der gesellschaftlichen Erwartungen bricht sie alle Brücken hinter sich ab und folgt dem Grafen, wo immer er hingeht. Vontobel ist ein an Ideen reicher Regisseur. Ihm gelingen Slapstick-Szenen um zwei Briefe ebenso wie Szenen, die als ein an Kitsch reicher, Elfen berankter Soapopera-Verschnitt daherkommen. Er kann tiefe Verzweiflung ebenso zeigen lassen wie kalte Berechnung und leichtfüßige Verliebtheit. Die Trumpfkarte für seine Inszenierung auf der Bühne des Schauspielhauses ist jedoch seine Hauptdarstellerin: Jana Schulz für das Käthchen. Ihr glaubt man in jedem Moment die unermüdliche, selbstlose Kämpferin für ihre Überzeugung. Ohne Rücksicht auf Äußerlichkeiten kämpft diese Frau für ihre Liebe. Sie scheint mit den Augen der Liebe Qualitäten an ihrem Angebeteten zu erkennen, die anderen verborgen bleiben. Für andere scheint dieses wankelmütige Muttersöhnchen ihrer Bemühungen kaum würdig. Am Ende hat Vontobel aus dieser ungleichen Kräfteverteilung die logischen Konsequenzen gezogen: Käthe schlüpft nicht nur in die Kleider des Grafen sondern auch in seine Rolle. Er dagegen hat ihr dreckiges Nachthemdchen an und schmiegt seinen Kopf in ihren Schoß.
Das Wunder von Schweden
Dantons Tod
Die Revolution frisst ihre Kinder
Der sinnenfrohe Genießer und Revolutionär Danton (Markus John) ist müde und desillusioniert geworden. Er glaubte die Republik gerettet zu haben und muss nun zusehen, wie das Morden und Hungern weiter geht. Seinem einstigen Mitstreiter und heutigen Widersacher Robespierre (Lukas Herrhausen) wird er in seiner zweifelnden Haltung zu gefährlich und soll eliminiert werden. Ohne Verfahren vor dem von Danton neu geschaffenen Parlament wird er verhaftet und zusammen mit seinem Weggefährten Camille (Janning Kahnert) eingesperrt und hingerichtet. Klar und analytisch stark hat Regisseur Duzan David Parizek dem Text vom Büchner folgend seine Inszenierung angelegt. In dem schlichten Bühnenbild mit den vier aufrecht stehenden Holzquadraten, die eine bis auf schmale Durchgänge geschlossene Wand quer über die Bühne bilden, zeigt sich die trennende Linie zwischen den Menschen, die einmal dasselbe Ziel hatten. Sie verfrachtet die einen hinter die Kulissen, die sichtbar werden, nachdem die Drehbühne die Rückseite der Wand zum Vorschein gebracht hat. Hier liegen Danton und Camille in ihren Zellen und warten auf ihre Hinrichtung. Und sie zeigt die anderen im Rampenlicht der Öffentlichkeit, wenn sie ihre wohl inszenierten Reden halten. Dass auch Robespierre bald die Seiten wechseln wird, wird nicht nur Danton klar.
Die Hermannsschlacht
Dorfpunks
Faust I
Glaube Liebe Hoffnung
Mit der letzten Szene beginnt Regisseurin Karin Henkel ihre Inszenierung des Horvath-Dramas am Schauspielhaus: Wie ein nasser Tropf steht die verzweifelte Elisabeth zitternd am Bühnenrand. Das dünne rote Flatterkleid bedeckt kaum den Körper, es bietet so wenig Schutz wie ihre Lebensumstände. Rot ist seine Farbe, die sie zum Freiwild für den männlichen Teil der Bevölkerung werden lässt, da sich niemand mehr schützend vor sie stellt. Immer wieder wird von ihnen begrapscht und bedrängt. Dabei wollte sie genau diese Situation immer vermeiden: "Ich wollte eigentlich selbstständig sein", bemerkt sie kleinlaut.
Um Elisabeth dreht sich die Spirale des Abstiegs bei Henkel. Ihr Passbild hängt an allen Wänden der leeren Bühne. Jana Schulz spielt sie mit herzergreifendem Selbstbehauptungswillen. Glück gibt es für sie nicht. Das markiert auch schon der herzerweichende Eingangssong, den die beiden Musiker zusammen mit den Schauspielern in der kleinen Orchesterversenkung auf der Bühne singen und spielen, zu dem Alfons laut aufheult.
Durch die musikalische Begleitung und die überpointierte Kostümierung kommt ein sentimentales und ein skurril-komisches Element in die Tragödie, die Elisabeths Schicksal umso tragischer erscheinen lässt.
Kabale und Liebe
Mädchen in Uniform
Mit dem Film, in dem Romy Schneider die Hauptrolle spielte, hat Polleschs Stück nur wenig zu tun. Es tauchen nur einige Figuren aus Christas Winsloes Vorlage auf. Sophie Rois kann als die junge engagierte Lehrerin gesehen werden. Ihre Schülerin Manuela gibt es allerdings ganz im Sinne der De-Individualisierung gleich als Chor, eben als das Mädchenbataillon. Im Gleichschritt und Gleichton treten sie auf und äußern ihre Meinung ganz im Sinne der von ihnen zitierten Soziologen Diedrichsen und Agamben. Exaltierte Künstlerinnen wollen sie alle in dieser Anstalt jedenfalls auf keinen Fall werden, um dann in der Welt da draußen nur die Entsolidarisierung zu erfahren.
Pollesch bleibt sich treu in dieser Uraufführung in Hamburg, zu denen er seine altbewährte Berliner Truppe (Rois mit Christine Groß, Brigitte Cuvelier) aus "Ein Chor irrt sich gewaltig" mitbrachte. Altbekannte Gedankengänge mixt Pollesch wieder mal geschickt mit ein paar überraschenden Zutaten zu einem neuen Stück. Der Wiedererkennungswert bleibt hoch. Der exakt arbeitende Chor mit seiner sorgsam ausgefeilten Bewegungschoreographie und die wie immer herausragende Sophie Rois machen den kleinen Abend dennoch zu einer anregenden Unterhaltung.
Pornographie
Punk Rock
Beunruhigend
Der schlaksige William, der seine soziale Ader gerne hinter schnell herausgesprudelten Sprüchen und Geschichten verbirgt, kam eines Tages mit einer Knarre in die Schule. Nun sitzt er in der Geschlossenen ein. Auf der großen Durchgangstreppe seiner Highschool blieb er stets einer unter vielen. Der Umgang zwischen den Schülern kurz vor ihrem Schulabschluss ist von pubertärem Gruppenverhalten geprägt. Wer coole Klamotten trägt, gut aussieht, gerne seine Stärke als muskulöser Macker oder sexy Weibchen demonstriert, hat gute Karten. Alle anderen sind zum Abschuss frei gegeben. Das überwiegend junge Publikum im Schauspielhaus verfolgte das Geschehen auf der großen Bühne konzentriert. Der Wiedererkennungswert unter der Regie von Daniel Wahl war spürbar hoch. Das Stück von Stephen Simons liefert keine einfachen Lösungen. Er zeigt dagegen ein Bündel an Antworten, was Amokläufer zu ihrer Tat motiviert. Er führt vor, dass die sozialen Ausgrenzungsmechanismen der Gesellschaft, die sich in dem Gruppenverhalten der Jugendlichen spiegeln, schon Grund genug sind. Er stellt die beunruhigende These auf, dass jeder zum Amokläufer werden könnte.
Romeo und Julia
Die schuldige Masse
Der schwarze Bühnenkasten hebt sich. Eine blubbernde Ursuppe des Lebens wird sichtbar. Zahlreiche Leiber wabern in einer ununterscheidbaren Masse Mensch umeinander. Noch sind sie nicht die Vertreter zweier unterschiedlichen, verfeindeter Clans, der Montagues und der Capulets. Ein stummer Chor ist Zuschauer, Kommentar und Beschleuniger in einem. Die Masse feuert auch in ihrer reinen Beobachterrolle an und wird so zum Mit-Schuldigen.
Diese feinen Kommentare verändern den Blick auf das berühmteste Liebespaar der Welt "Romeo und Julia", das frisch und herzerwärmend zugleich von Julia Nachtmann und Aleksandar Radenkovic gespielt wird. Klaus Schumacher arbeitet an dem Stück vor vier Folien: vor der politischen aus Sicht des Fürsten (und des Dichters Shakespeare), vor der romantischen des Liebespaares, vor der Kulisse der manipulierenden Masse und vor der komödiantischen der Nebenfiguren. So unterhält er die verschiedenen Zuschauerschichten, die ein derartiger Klassiker ins Schauspielhaus zieht, hervorragend und regt zugleich den Lernzuwachs für heutige Zwistigkeiten an.
Zigeunerjunge
Baal
Nachrichten aus der ideologischen Antike
Tannöd
Genannt Gaspodin
Den Kapitalismus bei den Eiern packen
Bei jedem "antikapitalistisch", das ihr Freund Gospodin (Janning Kahnert) ihr entgegenschmettert, schreckt Annette (Katja Danowski) wie vor Schmerz geschlagen zusammen. Dennoch schreibt Gospodin sein Dogma mit langsam schimmelig werdender Milch an die graubraune Küchenwand: 1. Ein Weggang ist auszuschließen; 2. Geld darf nicht nötig sein; 3. Jedweder Besitz ist abzulehnen; 4. Freiheit ist, keine Entscheidung treffen zu müssen. Diese Überzeugung hat sich nach der Wegnahme seines Lamas, das er beim Betteln in der Innenstadt neben sich stellte, durch Greenpeace-Aktivisten nur noch verschärft. Jetzt verlässt er die Wohnung gar nicht mehr. Autor Philipp Löhle hat eine Kapitalismuskritik vorgelegt, den der Jungregisseur Johan Heß im Rangfoyer des Schauspielhauses auf einer kleinen Spielwiese mit kleinen erdfarbenen Hügeln ganz ernsthaft umsetzt. Alle Schauspieler sind in Baukastenfarbene Anzüge gewandet, die genau an der Grenze zwischen spießigem Schnitt und leuchtendem Ausrufezeichen stehen. Der bizarre Witz wird mit solider Businesswelt kontrastiert. Kurzweilig und aberwitzig wird hier die Kritik am Kapitalismus auf die Spitze getrieben.
Immer nie am Meer
Wenn die Schamgrenzen fallen
Drei Männer haben einen Autounfall. Nur ein paar Schrammen haben sie abbekommen, doch ihr Wagen ist zwischen zwei Bäumen eingeklemmt. Die Türen lassen sich nicht öffnen und das Glas nicht einschlagen. Denn dies ist ein besonderer Wagen: das gepanzerten Ex-Auto von Kurt Waldheim. Nur einen Schale Heringssalat und einige Flaschen Sekt sind zur Versorgung vorhanden. Auf engstem Raume sind nun die drei unterschiedlichen Männer dazu verdonnert, ihren Stunden und Tage in immer hoffnungslos werdendem Warten auf Hilfe zu verbringen. Dominique Schnizer setzt die drei Männer auf ein weißes Podest inmitten einer Filmleinwand. So umgibt zunächst der Wald das Gefährt der Drei und später die Labor des überintelligenten hochbegabten Jungen. Wer viel Sinn für die derberen Arten des Humors besitzt, wird sich im Rangfoyer des Schauspielhauses gut unterhalten fühlen.
Federn lassen
Gehen Bleiben
Spiels noch einmal
Im Stillen
M –ein Mann jagt sich selbst