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Der Kirschgarten
Die gute alte Zeit

Breit angelegt ist der geräumige, fast leere Platz, der unter eine Autobahnbrücke angesiedelt ist. Wo einst ein Kirschgarten stand, sorgt heute eine Betonkulisse für ungestörte schnelle Transportverbindungen. Der Heimatort, der so viele Erinnerungen an gute und schlechte Zeiten bereithält, hat der Zukunft Platz machen müssen.
Sollte man der guten, alten Zeit nachtrauern? Doch so recht scheinen die reichen Müßiggängern, die den ganzen Tag auf dem Gutshof herumschwadronierten, ihre Ausgangslage nicht genutzt zu haben. Ohne den Ernst der Lage für sich und ihre untergebenen Arbeiter einschätzen zu können, gaben sie sich fast ausschließlich ihrem Wohlergehen und der Langeweile hin. Solange bis das Geld ihrer Vorväter sich verflüchtigt hatte. Ans Aufbauen dachten sie nicht.
Doch was hat nun die neue Zeit zu bieten? Lopachin übernimmt den Laden und will aus dem Kirschgarten parzellierte Plätze für Sommerhäuschen machen, von denen er sich viel Geld verspricht. Mit dem Müßiggang ist es vorbei, aber auch mit der Ruhe und Beschaulichkeit. Lopachin kennt wie die bis jetzt herrschende Klasse ebenfalls keine höheren Ziele, sondern ihn interessiert jetzt einzig allein der in Aussicht stehende Gewinn.
In der breit angelegten Inszenierung von Roberto Ciulli wird den einzelnen Charakteren viel Platz eingeräumt. Die verschiedenen Persönlichkeiten werden liebevoll mit viel Sinn für das Dekorative ausgemalt. Ciullis Einstiegsidee zu Tschechows Stück „Der Kirschgarten“ ist bezwingend: Unter der Betonbrücke hausen Lopachin und der Diener Firz wie Penner. Die Gutsbesitzer sind dagegen in stilvolle Kleider gehüllt. Wie lange noch? Kleidungshaufen werden stetig umgeschichtet. Immer sind die jetzt schon und bald Heimatlosen auf der Suche nach einem Platz für einen Halt. Doch bei dem Spiel über drei Stunden wird diese Idee ziemlich strapaziert, wenn Ciulli die ganze Vorgeschichte in aller epischer Ausführlichkeit darlegt. Zum Glück sorgen Irene Kugler als Gräfin und Tim Grobe als Lopachin für markante Orientierungspunkte und halten den roten Faden der Geschichte in der Hand. Sie schaffen es mit ihrer Bühnenpräsenz den großen leeren Raum immer wieder zu füllen.
Birgit Schmalmack vom 5.10.06