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Schlichte Menschenliebe
Sind einfache Landmenschen besser, menschlicher, liebevoller und weniger berechnend als die kapitalistischen Stadtmenschen? Grace möchte daran so gerne glauben. Sie ist vor ihrem Vater, der auf sie geschossen hat, in das abgelegene Dorf „Dogville“ geflüchtet. Dort trifft sie neben den Dorfbewohnern auf den intellektuell angehauchten Tom, der ihr gerne helfen will. Zwar nicht ganz so uneigennützig, wie es zunächst scheint, denn sie kommt seinem pädagogischen Vorhaben, das Dorf moralisch zu stärken, sehr entgegen. An der hilfsbedürftigen Frau können sie ihre Mitmenschlichkeit schulen, findet der Möchtegernschriftsteller. Dass sie dabei zart, verletzlich und wunderhübsch ist, muss dem Plan schließlich nicht unbedingt schaden. Die verwöhnte, aus reichen Verhältnissen stammende Grace nutzt ihre Chance das einfache Landleben kennen zu lernen. Sie verliebt sich in die schlichten Menschen, lernt sie zu verstehen und zu nehmen. Sie lebt sich gut ein. Bis ein Anruf das Dorf erschüttert: Sie soll bei einem Bankraub mitgewirkt haben und wird von der Polizei gesucht. Plötzlich wendet sich das Blatt. Die Dorfbewohner wissen nun, dass die Frau völlig von ihrem Wohlwollen abhängig ist und nutzen sie aus. Die Männer, die ohnehin ein Auge auf die Schöne geworfen haben, nehmen sich das, worauf sie meinen ein Recht zu haben. Vergewaltigt, gedemütigt und herumgeschubst will Grace immer noch nicht die Hoffnung auf eine Zukunft aufgeben. Zumal sie sich in Tom ebenso verliebt hat wie er in sie. Doch ausgerechnet dieser Tom verrät sie, als sie ihm seine Beischlafrechte verweigert.
Ihr Vater kommt und erklärt ihr: Sie verhalte sich nicht minder arrogant als er, wenn sie alles entschuldige, nur weil diese Menschen arm und schlicht seien. Sie stelle sie damit auf eine Ebene mit den Tieren, mit den Hunden. Grace entscheidet sich gegen das Mitleid, gegen die weitere Demütigung und für die Macht des Stärkeren.
Nils Daniel Finck hat in der neu gegründeten Theaterfabrik in Barmbek den Film auf die Bühne gebracht. Viele versierte Theater- und Filmschauspieler standen ihm damit ebenso zur Seite wie einige Berufsanfänger. Hohe Qualität in der Darstellung zeigen sie alle gleichermaßen. Musikeinspielungen vom Band gibt es nicht, wenn sie erklingt, dann live aus den Kehlen der Schauspieler. Die große, breite Bühne in der kahlen, schwarzen Halle ist schlicht mit Stühlen und Obstkisten ausgestattet. Nichts lenkt von den Schauspielern ab. Benno Führmann überzeugt als Schreibtischtäter, der sich händereibend vom schlechten Gewissen befreit. Judith Rosmair ist ein Glücksgriff für die Besetzung der Rolle der Grace. Ihre einfühlsame Menschenliebe, die Erwartungen schürt, die sie dann nicht befriedigen darf ohne zu verletzen, spielt sie in jedem Moment überzeugend. Die Dramatik der sich immer weiter zuspitzenden Ereignisse zieht den Zuschauer in seinen Bann. Ein ergreifender Theaterabend, der einen Besuch in der neuen Theaterlocation lohnt.
Birgit Schmalmack vom 10.4.06