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In jedem Menschen steckt ein kleiner Teufel

Woyzeck, DSH Thomas Aurin



Im Programmheft steht das Thema "Femizid" im Mittelpunkt. Doch diese Deutung macht sich Regisseurin Lucia Bihler bei ihrer Inszenierung von Woyzeck im Schauspielhaus nicht unbedingt zu eigen. Denn bei ihr hat auch Marie kleine Teufelshörner auf dem Kopf. Auch sie trägt, wie ihr Freund, der schließlich zum Messer greift, die Verantwortung für ihr eigenes Leben bzw. Überleben in sich.
Zuerst ist die Bühne geschlossen. Nur ein großes Auge blickt die Zuschauer:innen an. Poppig bunte Strahlen umgeben es, die die Aufmerksamkeit hineinzuziehen scheinen. Wessen Auge es sein könnte, wird erst zum Schluss klar. Unser aller Auge, das die privaten Tragödien der Anderen zwar gierig nach neuen Sensationen aufsaugt, aber nichts zu ihrer Verhinderung unternimmt. Alle sind nur nach Skandalen lüsternde Zuschauende, die damit ihre eigene Leere füllen wollen.
Gleich zu Beginn steht die Uhr auf drei. "Es ist Zeit", verkündet Woyzeck und sticht in der rosaroten Gummizelle zu. Marie sinkt blutüberströmt zu Boden. Doch andere Variationen dieser Geschichte sind denkbar und durchspielbar. Das zeigt Bihler in ihrer Deutung des Dramas. Dass sie dabei ihre Figuren zu überzeichneten Comicfiguren in glänzend grünen Kostümen mit weiß geschminkten Gesichtern und roten umrandeten Augen werden lässt, verwehrt den Zuschauer:innen allerdings jede Form des Einfühlens. Darum scheint es ihr nicht zu gehen. Die psychologischen Hintergründe, die Woyzeck zu seiner Tat bringen, deutet sie nur an. Das heißt, sie lässt die systemkritischen Aspekte zwar vorkommen, verfolgt sie aber nicht weiter. So verliert das Stück auch einen Teil der Wucht und wird mehr zu einem interessanten und gestalterisch konsequenten Gedankenspiel, das seinen Versuchsanordnungscharakter nie ganz abstreift, trotz des gestalterischen Aufwands, den die Inszenierung treibt. Da ist zunächst der Schlagzeuger, der mit seinen Beats am Rande der Bühne das Spiel in immer neue Umdrehungen treibt. Dann das eindrucksvolle Bühnenbild mit seinem rosa ausgepolsterten Guckkasten, der auf halber Höhe mitten in der Bühne hängt. Wenn nach gut der Hälfte des Stückes das Gummizellenzimmer von Marie und Woyzeck anfängt sich zu drehen und noch weitere identische rosa Zimmer offenbart, wird der ganze unausweichliche Irrsinn der menschlichen Existenz überdeutlich. Gefangen im eigenen Gedankenkarussell!
Dennoch scheinen am Rande auch mögliche Auswege auf. Zum einen: Die Regisseurin befreit Marie in letzter Konsequenz aus der Opferrolle. Sie kann gehen. Doch erst nach vielen scheinbar endlosen Wiederholungsschleifen. Und zum anderen: Unser aller Auge trägt eine entscheidende Mitschuld. Tatenlos oder sogar gierig zuschauen heißt zulassen und gutheißen, wenn nicht sogar die Täter unterstützen. Leider könnte man diese Aspekte in dieser ebenfalls um Aufmerksamkeit kreischenden Versuchsanordnung, zu der Bihler das Büchnersche Drama gemacht hat, fast übersehen. Dennoch: In ihrer Konsequenz ist diese Arbeit mit ihrem überaus stringenten und künstlerischen eindrucksvollen Gestaltungswillen etwas Besonderes. Klassische Woyzeck-Inszenierungen gibt es schließlich schon genug auf deutschen Bühnen.
Birgit Schmalmack vom 31.10.22