Keine Opfer
Die junge Studentin fühlt sich ganz auf ihr Frausein und Ihre Armut zurück geworfen. Denn ihre Tage sind überfällig und das letzte, was sie im Moment gebrauchen kann, ist ein Kind. Als unverheiratete Frau würde das das Ende ihrer gerade begonnenen Überwindung Ihrer Klassenzugehörigkeit bedeuten. Denn sie ist die erste in ihrer Familie, die studiert. Doch es ist das Jahr 1963 in Frankreich und Abtreibung ist illegal. Für reiche Frauen mag es trotzdem noch Mittel und Wege geben, doch für sie als Mittellose ist eigentlich keine Wahl vorgesehen. Doch die 23-jährige weiß genau: "Es muss weg." Auch wenn dieses Wegmachen sie in Lebensgefahr bringt. Die Nobelpreisträgerin Annie Ernaux hat dieses biografische Ereignis in einem Text verarbeitet. Sie wollte durch eine möglichst ungeschönte Beschreibung der Realität die Wirkungsmacht wieder in die eigene Hand nehmen. Die Scham und das Schweigen überwinden.
Im Rangfoyer des Schauspielhauses steht eine Skulptur inmitten einer klinisch weißen Ellipse, in der die Zuschauer:innen Platz genommen haben. Die Skulptur besteht aus ineinander verschlungenen Frauenarmen und -beinen. Sie spricht von Lust. Doch nun liegt die junge Frau unter diesem Lustkörper und versucht die Folge, die nur die Frau von dieser Lust tragen muss, loszuwerden. Der Erzeuger hält sich sehr bedeckt. Das müsse sie alleine regeln. So überlässt sie sich einer Engelmacherin. Die folgende Geburt des Embryos durchleidet sie in ihren Wohnheim-Zimmer und verblutet fast. Ihr "Wasserkind" spült sie in der Toilette herunter. Detailgetreu, schonungslos, fast dokumentarisch protokolliert Ernaux die existenzielle Notsituation, in die die Frau das Ereignis geworfen hat. Sie wird in dem intimen Setting des Rangfoyers kongenial von der Regisseurin Annalisa Engheben zusammen mit Sandra Gerling, Josefine Israel und Sasha Rau als dreifache junge Frau umgesetzt. Sie umkreisen die riesengroße Figur in der Mitte, die ein Symbol der Körperlichkeit ist, erklimmen sie, versuchen sie vergeblich zu verschieben und nutzen sie als gemeinsames Spielfeld. Obwohl die Frauen hier sehr zurückgenommen agieren, ganz im Stil des Textes, machen sie klar: Sie sind keine Opfer sondern Gestalterinnen ihres Lebens.
Birgit Schmalmack vom 24.10.22