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Nachrichten aus der ideologischen Antike

http://www.abendblatt.de/kultur-live/article1363858/Der-Hunger-nach-Sinn-bleibt-ungestillt.html

Willkommen im Theater Grand Guignol in Paris!
Mit dem „Mann ohne Kopf“ wirbt das Pariser Theater. Seine allabendliche Enthauptung findet unter großem Geschrei auf der Bühne statt. Doch es hat noch weitere Skurrilitäten zu bieten: Die Frau mit den Zwillingsköpfen, das Mädchen mit den zusammengewachsenen Nixenbeinen, den sprechenden Vogel und den verrückten Professor. In diesem Kabinett der Besonderheiten wird tief in der ideologischen Vergangenheit gegraben. Marx lässt grüßen. Seine Texte geben die Forschungsrichtung vor und untersucht, inwieweit die Menschen mit ihren Veranlagungen den Lauf der Menschheitsgeschichte beeinflussen können.
Kevin Rittberger bricht Alexander Kluges Verfilmung des Marxschen Kapitals auf die kleinen ganz persönlichen Geschichten der Freaks im Theater Guignol herunter. Anhand ihrer Entwicklungsgeschichten werden die philosophischen Ansätze Marx diskutiert. Bietet der Sozialismus die Entfaltungsmöglichkeit aller Individuen? Die Geschichte der Nixenfrau deutet in die entgegen gesetzte Richtung: Nach ihrer Operation durch den Professor entspricht sie zwar äußerlich der Stromlinienform der anderen Menschen, aber sie kann nur noch auf Krücken laufen. Ihre schöne elegante Besonderheit wurde ihr genommen.
Welche Grundlage braucht der Kapitalismus? Ohne Lebenszeit, die in Arbeits- und Konsumzeit umgewandelt wird, kann er nicht existieren. Also müsste man wohl die Lebenszeit vernichten, um den Kapitalismus unmöglich zu machen.
Kann die Liebe eine Produktionsgemeinschaft begründen? Das fragt sich die Zwillingsfrau als den magischen Moment des Verliebens mit dem Mann ohne Kopf selbst erlebt. Erstmals bekommt sie die Möglichkeit ihre Theorien, die sie ihren Schülern in ihren Volkshochschulkursen vorträgt, selbst zu überprüfen.
Rittberger arrangiert eine Freakshow um Bilder für die Marxschen Theorien zu finden. Nicht immer gelingt das so klar und überzeugend wie bei der OP der Nixenfrau. Manchmal drängeln sich die Sensationen im Grand Guignol auch so in den Vordergrund, dass die scheinbar überlebten Philosophien ebenso weit abgedrängt wurden wie durch die Realitäten des 21. Jahrhunderts.
Birgit Schmalmack vom 6.7.10