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Auslöschung, der Zerfall

Vergebliches Kappen der Wurzeln

Ein Monolog in Romanformat von 650 Seiten, dessen Handlung sich in einem Satz zusammenfassen lässt – das sind denkbar schlechte Voraussetzungen für eine Regisseurin um einen spannenden Theaterabend zu gestalten. Christiane Pohle nahm sie in Kauf, als sie sich für ihre Inszenierung am Thalia Theater das Alterswerk „Auslöschung. Ein Zerfall“ von Thomas Bernhard aussuchte.
In ihm beschreibt Bernhard, wie der Dichter Murau nach der Nachricht vom Unfalltod seiner Eltern und seines Bruders in seinen ungeliebten, österreichischen Heimatort zurückkehrt und dort vergeblich versucht, die Wurzeln seiner Vergangenheit aus seinem Leben, Denken und Fühlen herauszureißen.
Pohle wählt als Ausgangsituation die Versteigerung seines elterlichen Erbes. Auf der leeren schwarzen Bühne sind hölzerne Kisten zu sehen, in denen der ganze Hausstand verstaut ist. Nur die Auktionskanzel überragt das Kistengebirge. In ihm thront der Auktionator (Andreas Lechner), der mit seiner Assistentin (Victoria Trauttmansdorff) das elterliche Traditionsgebinde an die wartenden Käufer versteigert. Die Vergangenheit soll verscherbelt werden. Murau will sie sich ihrer endgültig entledigen. Die räumliche Distanz, in die er sich mit seinem Wegzug nach Rom schon flüchtete, reichte ihm nicht. Seine Familie holte ihn immer wieder ein. Im Laufe der Versteigerung, während der einzelne Personen wie Wiedergänger seiner Geschichte zwischen den Holzkisten auftauchen und seine Erinnerungen verkörpern, wird ihm immer klarer, dass die gewünschte Auslöschung der Vergangenheit auch jetzt nach dem Tod der Eltern ein hoffnungsloses Unterfangen bleibt. Die Familie ist ein Teil von ihm und sei es auch nur durch die Abgrenzung zu ihr, die sein Leben geprägt hat.
Pohles Inszenierung wird zu einem Einpersonenstück für und durch Thomas Schmauser. Er erweist sich als Idealbesetzung für den individuellen Querkopf des versponnenen Dichters, der sich wortgewaltig in seinen intellektuellen Gedankengebäuden zu verlaufen droht. Schmauser gibt ihr eine Gestalt, die bald resigniert unter der Leiter des Auktionatorgerüstes hängt, sich dann hinter den Holzkisten verschanzt, bald die Berg- und Tallandschaft der Kisten erklimmt, um dann behände einzelne Bücher aus den Kisten zu befreien und begeistert einzelne Textstellen seinem italienischen Schüler Gambetti zu zeigen. Dass der Abend zeitweise in seinen Bann zog, verdankte er diesem außergewöhnlichen Darsteller, der mit Leib und Seele diese Rolle verkörperte. Dennoch bleibt es eine spröde Umsetzung des Romans, da sie fast ganz dem Wort vertraut und nur wenige Bilder benutzt. Klugerweise entschied sich Pohle dafür das Mammutwerk Bernhards auf knapp 100 Minuten Spielzeit zu verkürzen. Was naturgemäß zur Folge hat, dass alles, was Bernhard in seinem Roman erschöpfend zu Traditionalismus, Prüderie, Katholizismus und Nationalsozialismus ausführt, nur kurz angerissen werden kann.
Das Premierenpublikum lies neben anerkennendem Schlussapplaus auch einige Buh-Rufe für die Regisseurin ertönen, während sie Schmauser mit begeistertem Beifall feierten.
Birgit Schmalmack vom 19.9.06