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Gehen oder Bleiben
Victor Klemperer (Michael Prelle) hat diese Frage für sein Leben beantwortet: Er ist im Nazideutschland geblieben, obwohl er als Jude ständig um sein Leben und das seiner arischen Ehefrau fürchten musste. Er fühlte sich zu sehr als Deutscher. Er war ein Wissenschaftler, der in deutscher Sprache, deutscher Kultur, deutscher Denkweise und Tradition aufgewachsen war. Was sollte er in einem anderen Land? „Was kann ich denn sonst? Ich habe doch anderswo keinen Marktwert,“ fragte er sich selbstkritisch. Also versuchte er sich so unauffällig wie möglich zu machen und verachtete sich dafür selber. Nur seine Tagebücher boten ihn ein Refugium. In ihnen sah er ab jetzt seine Lebensaufgabe. „Ich will bezeugen, das ist meine persönliche Heldentat,“ versuchte er sich zu überzeugen. Sein Leben sollte einen Sinn gehabt haben, auch wenn es viele Jahre nur aus dem nackten Überleben bestand. Während viele seiner Verwandten, Freunde und Kollegen ins Ausland gingen, blieb er. Er und seine Frau überlebten, kamen ins ausgebombte Dresden zurück und fanden ihr altes Haus unversehrt wieder. Ein spätes Glück und Erfolg in der neu gegründeten DDR folgte. Wieder musste Klemperer sich fragen lassen: „Warum bleiben Sie hier oder gehen nicht in den Westen?“ Seine Antwort war, dass er an die sozialistische Idee eher als an die kapitalistische glauben könne. Doch bis zum Ende seines Lebens blieb Klemperer ein äußerst selbstkritischer Geist. Immer wieder hinterfragte er seine Entscheidungen zum Bleiben. War dieses Deutschland noch das, für das sich sein Ausharren gelohnt hätte? War dieses Land nicht für immer unter dem Horror des Dritten Reiches beschädigt oder sogar zerstört worden? War er nicht einfach nur feige gewesen, indem er blieb?
Regisseur Martin Oelbermann und Darsteller Michael Prelle arbeiten hervorragend die Lebensfragen des mit sich hadernden Denkers heraus. Die Tagebuchaufzeichnungen in der Bearbeitung von Katrin Kazubko dienen ihnen als Textgrundlage. Sie beweisen, dass Klemperer ein aufrichtiger Zeitgenosse war, der für die Nachwelt tatsächlich immer noch ein glaubwürdiges Zeugnis ablegen kann.
Birgit Schmalmack vom 30.3.06