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Du bist schuld!

Die Antwort auf die erste Aufgabe, die Ödipus einst lösen musste, war "der Mensch" gewesen. Ödipus hatte damals dabei an sich selbst gedacht, er selbst als Verkörperung des Menschen, der die Stadt Theben retten kann. Nun steht er wieder vor einer Aufgabe. Mittlerweile ist er König Thebens geworden. Doch sein Volk leidet. "Die Pflanzen tragen keine Früchte mehr, die Tiere sterben herdenweise in den Ställen, und die Flüsse reißen ganze Häuser nieder oder versagen gleich den Dienst und liegen trocken da." Das Orakel aus Delphi verkündet nun: "Suche den Schuldigen am Tode des vorherigen Königs!" Schnell ist Ödipus mit seinen Schuldzuweisungen, mit seinen Vorverurteilungen fertig. Bis der Seher Theresias eine unangenehme Überraschung für ihn parat hat.
Seine beiden Töchter Antigone und Ismene versuchen in der Rückschau den Verlauf des nun folgenden Dramas zu ergründen. Es wird eine Spurensuche der Anerkennung von Schuld und der Übernahme der Verantwortung, bzw. genau des Fehlens von beidem. Es wird eine Geschichte des Nicht-Erkennen-Wollens. Regisseur Nicolas Stemann nimmt sich die altbekannte Tragödie noch einmal vor und klopft sie mit nur zwei Schauspielerinnen auf ihre Grundbestandteile ab. Er fragt nach Schuld und Verantwortung und deutet nebenbei geradezu dezent eine mögliche Aktualität dieser Fragestellung an. Wie gesagt: "Die Pflanzen tragen keine Früchte mehr, die Tiere sterben herdenweise in den Ställen, und die Flüsse reißen ganze Häuser nieder oder versagen gleich den Dienst und liegen trocken da."
Als Ödipus das Volk zusammenruft und es direkt mit seiner Aufklärung der harten Hand konfrontiert, um Laios Mörder zu entlarven, sprechen die beiden Schauspielerinnen das Publikum direkt an: "Du hier vorne bist schuld, die erste Reihe ist schuld, du im Sweater bist schuld, die Leute in den Logen des Rangs sind schuld." Der Mensch ist schuld an den Menschen gemachten Krisen dieser Zeit. Und dabei ist er doch so gut im Verdrängen. Wie Ödipus. Als dieser allerdings die bittere Wahrheit erkennen muss, sticht er sich die Augen aus und das Publikum wird geblendet von hellen Scheinwerferlicht.
Alicia Aumüller und Patrycia Ziólkowska spielen alle Rollen dieses hochkonzentrierten, nur leicht aktualisierten, klassischen Textes. Alleine vor der Vorderbühne, meist vor dem heruntergelassenen eisernen Vorhangs springen sie in alle Charaktere der Tragödie, um sich als Schwestern den Tathergang zu erklären. Das ist ein Fest der Schauspielkunst, das alle Aspekte der sich windenden Verleugnung, Erkenntnisverweigerung und Schuldübernahme beleuchtet. Und nebenbei deutlich macht, wohin das führt: Zu einer immer sich weiter fortschreibenden Spirale der Katastrophen. Beim Gastspiel des Schauspielhauses Zürich in Hamburg anlässlich der Lesingtage gab es Standing Ovations.
Birgit Schmalmack vom 6.2.23