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Kontrastprogramm

KIezstüremer, St-Pauli Theater
"Tut mir leid, dass wir euch eure Zukunft vermasselt haben." Diese dürre Entschuldigung der Schuldirektorin bei der Abi-Abschlussfeier befriedigt die Abiturienten nicht. Als klar wird, dass draußen vor dem St. Pauli Theater, das die Direktorin ihnen als sicheren Ort anvisiert hatte, schon die Apokalypse in vollem Gange ist, haben sie nichts mehr zu verlieren und setzen zu ihrem Showdown an. Hinter dem geschlossenen eisernen Vorhang reißen sie sich und ihrer Direktorin die Kleider vom Leibe, legen sie kurzerhand auf die Büffettafel und weiden sie aus. Die "Abikalypse", die Jungregisseur Maciek Martios gemeinsam mit seinem Team anrichtete, macht deutlich, wie schwer es ist, den richtigen Ton zwischen Klamauk und Farce zu treffen. Dazu braucht es mehr als eine passable Grundidee und ein motiviertes spielfreudiges Team. So stellte sich dieses Konzept als Überforderung für die Mitwirkenden heraus. Auch wenn Martios mit Christine Korfant eine professionelle Schauspielerin für die Rolle der Direktorin gewinnen konnte.
Wie man mit einer wunderbaren Textgrundlage und einer klugen Setzung eine beeindruckende Inszenierung erreichen kann, bewies dagegen Jungregisseurin Sophie Glaser, die sich Virginia Wolffs "Orlando" vornahm. Denn es wurde bei ihr nicht zu einer weiteren klassischen Umsetzung des höchsten aktuellen Textes über fluide Geschlechterzuschreibungen, sondern zu einer sehr eigenwilligen, konsequenten und ausdrucksstarken Arbeit. Orlando gibt es bei ihr gleich zwei Mal. Links ist die Seite von Paula Weber und rechts die von Yann Mbiene. Sie sind Facetten von Orlando, wobei die Übergänge fließend sind, wie sowohl die Kostüme wie auch die Bewegungen zeigen. Da es bei diesem Thema um Bilder geht, die zugeschrieben werden, lässt sie die beiden Darsteller hinter einem Gazevorhang auftreten, auf die Projektionen ihrer Smartphones parallel zu ihrem Liveauftritt gezeigt werden. Dabei sind sie stumm den Statements ergeben, die in Textprojektionen oder mit Offeinspielungen über sie verbreitet werden. Sie haben nur ihren Körper, um sich mit ihm gegen diese Erzählungen zu positionieren. Erst ganz zum Schluss schlüpft Weber durch den Vorhang und fängt an zu sprechen. Dann reflektiert sie in einem furiosen Monolog über die verschiedenen Ich-Schichten, die sich bei ihr übereinander gelagert haben und keinesfalls im Gegensatz zueinander stünden, sondern alle zu ihr gehörten. Genau diese gezielte Brechung verschaffte dieser Arbeit den entscheidenden Kick, der sie zu einer überaus gelungenen machte. Glaser zeigt einen Mut zur klaren Setzung, zur konsequenten Umsetzung und zu einer eigenwilligen Interpretation, die sowohl Trends aufnahm und sich ihnen widersetzte.
Birgit Schmalmack vom 19.10.22