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Wie weit kann man nach oben fallen?

Hotel Savoy, Thalia Foto: Emma Szabó



Ein nackter Mensch liegt auf dem klaten Fliesenboden. Zusammengekrümmt, minutenlang während die Zuschauer:innen hereinkommen. Verloren, einsam, mittellos. Gabriel Dan ist aus russischer Kriegsgefangenschaft zurückgekehrt. Er hat seinen Fuß auf europäischen Boden gesetzt, als er in diesem polnischen Provinzstädtchen nahe der Grenze eingetroffen ist. Der Fliesenboden, auf dem er jetzt liegt, gehört zum Hotel Savoy, einem Hotel, in dem unten Reichtum und oben Armut logiert. Er bekommt ein Zimmer im zweitletzten Stock. Die Uniform des alten Liftboys (André Szymanski), der Dan bis in den siebenten Stock schweben lässt. hat dasselbe Muster wie der Fliesenboden. "Wie hoch kann man fallen?", fragt er sich dabei. So verschwimmt das Faktotum, das über die Geschicke des Hotels wacht, mit dem Hintergrund. Zusätzlich besteht einer der ebenfalls mit dem Fliesenmuster versehenen Bühnenkästen (Bühne: Aleksandra Pavlović) aus lauter Streifen, in die die Protagonisten ein- und auftauchen können. fast unbemerkt.
Über ihm hört Dan zarte, aber beständige Schritte. Sie gehören der Varietetänzerin Stasia, wie er bald herausfindet. Sie weiht ihn in die anderen Geheimnisse des Hotel Savoy ein. Hier wohnt eine Ansammlung von Gestrandeten, Zusammen bilden sie eine Gemeinschaft der Labilen, die sich gegenseitig ein wenig Halt zu geben versuchen. Doch Dan ist ein Einzelgänger, selbst wenn die anderen in einem flotten Move auf der Bühne zusammenfinden, bleiben seine Bewegungen ungelenk und zeugen von Wut, Verstörtheit und Einsamkeit. Erst als ein ehemaliger Kriegskamerad im Hotel ankommt, spürt er so etwas wie Verbundenheit, obwohl der Querkopf ganz andere Ziele als Dan hat. Er will eine Revolution anzetteln.
Joseph Roth hat einen Gesellschaftsroman über das nach dem Weltkrieg erodierte Europa geschrieben. Die Heimatlosen, die versuchen sich ein neues Leben überzustreifen, haben nicht nur mit ihrer Zerrissenheit, ihren Traumata sondern auch mit ihrer Einsamkeit zu tun. Dan erkennt, dass es dabei weder um Gerechtigkeit noch um Gemeinschaft noch um Liebe geht, sondern einzig ums Überleben. Stasia (Cathérine Seifert), mit der sich gerne verbandelt hätte, nimmt lieber seinen reichen schmierigen Cousin Alexander (Merlin Sandmeyer), der ihr die Weiterfahrt nach Paris sicherer ermöglichen kann.
Charlotte Sprenger inszeniert diesen Abgesang einer Gesellschaft als einen Totentanz. Die Personen lässt sie in ständigen Rollenwechsel auf dem Drahtseil ihres zerstörten Lebens spazieren, immer dessen bewusst, dass sie jederzeit abstürzen können. Doch sie tanzen weiter, bemüht ihre Schritte den der anderen anzupassen und möglichst eine gute Figur zu machen. Nur Dan will sich nicht einklinken. So liegt er am Ende weder auf dem Boden und aus seinem Mund läuft rotes Blut, während das Hotel in Flammen aufgeht.
Pascal Houdus spielt diesen Gabriel Dan als traumatisierten Außenseiter, der das Geschehen von den Rändern her beobachtet. Er findet keine Heimat. Die einzige, die er besitzt, ist die in sich selbst, wie er an einer Stelle mit den Worten von Roth sagt. Houdus ist damit das Zentrum dieser Aufführung, alle skurrilen Figuren um ihn herum sind wie Zombies, die ihre Tanzschritte auswendig gelernt haben, während er versucht, seinen eigenen Weg zu finden. So schafft es Sprenger, die Balance zwischen gespielter Leichtigkeit und verstörendem Abgrund zu halten.
Birgit Schmalmack vom 24.10.22