Die Natur spricht, wenn der Mensch schweigt
Es ist passiert. Das Zeitalter des Anthropozän, in dem der Mensch sich noch in den Mittelpunkt seiner Welt sehen konnte, ist vorbei. Denn er hat sich selbst zerstört. Nun kann er sich selbst zwar vernichten, aber nicht die Natur. Sie überlebt ihn. So erholt sie sich langsam von den Katastrophen, die der Mensch ausgelöst hat und beginnt neues Leben aufzubauen. Wesen, die erst wie Amöben, dann wie Insekten und zum Schluss wie Affen das Terrain erkunden, abtasten und erspüren, nehmen die Signale der Umgebung auf, leiten sie weiter, transformieren und verändern sie. Auf dem Fleckchen Erde, das sie vorfinden, versuchen sie so ein neues System des Miteinander-Überlebens zu erfinden. In einem feinen Zusammenspiel zwischen den Frequenzen der Umgebung mit all ihren Sirren, Zirpen, Schreien, Surren und Zischen entsteht ein feines Geflecht zwischen Sendern und Empfängern. Die Umgebung sendet ihre Signale, die Lebewesen nehmen sie auf und spinnen sie weiter. Zuerst noch sehr auf sich fokussiert, ganz darauf ausgerichtet, sich selbst zu verstehen, öffnen sie sich dann für die Empfindungen des Anderen in der Nähe und nehmen zaghaften Kontakt auf. Sie finden zu einem Gleichklang, zu einem Miteinander und schließlich zu einer Ruhe, bis sich Konkurrenz und Kampf anzudeuten scheint, der die Kommunikation immer vibrierender und nervöser werden lässt. Bis die Wesen schließlich auf dem Boden landen und sich erst allmählich wieder in eine aufrechte Position begeben, die hier der Vierfüßlergang ist. Zuletzt machen sich alle zusammen auf, um den Hügel am Rand zu erkunden. Behutsam, vorsichtig und wohl abgestimmt entdecken und erkennen sie als neu geformte Gemeinschaft ihr neues Terrain.
Lebewesen und Natur werden so eins, werden zu einem Kommunikationsgeflecht, das kein Oben und Unten, keine Ausnutzenden oder Aufgenutzte kennt. Senden und Empfangen fließt ineinander. Den Nervenbahnen des Universums einer neuen Welt kann man hier beim Entstehen zuschauen. Ein dichter Raum aus Sound, Licht und Bewegung ist entstanden. Angeregt durch Donna Haraway's Camille-Geschichten aus ihrem Buch "Unruhig Bleiben" ist der Choreographin Yolanda Morales mit "Nerven" eine hochsensible und enervierende Arbeit gelungen. Die vier hervorragenden Tänzer*innen (Emilie Lund, Joel Paulin, Alicia Ocadiz, Ida Hørlyck Thomsen) in ihren Pilzgeflecht-Bodysuits erschaffen eine konzentrierte Struktur der Emotionalität aus kleinen Gesten, Schwingungen und Bewegungen, die sich in einem Schwebezustand zwischen Einzelwesen und Gemeinschaft, zwischen Flotieren und Grundieren, zwischen Anregung und Abstimmung entfaltet. Im Lichthof Lab ist Morales Choreographie als Streaming Angebot zu sehen. Schon in diesem Format entfaltet sie ihre innovative Kraft - um wie viel mehr erst in einer Live-Aufführung, in der wieder alles mit allen Sinnen erlebt, erspürt und erfühlt werden darf!
Birgit Schmalmack vom 11.01.21