Wir wollen uns wieder amüsieren
Wer eine Revue der wilden 20-ziger Jahre in Berlin erwartet, wird enttäuscht werden. Hier tritt keine Frau im Charleston-Kleid auf und wiederholt die altbekannten Klischees. Diejenigen aber, die einen tiefgründigen Einblick in das kulturelle, literarische und politische Leben der Stadt in den Jahren von 1918 und 1933 erhalten wollen, denen bietet die Schauspielerin und Interpretin Sigrid Grajek genau das, und zwar auf sehr informative und unterhaltsame Art und Weise. Sie schneidet so geschickt die Zeitdokumente aus Chansons, Tagebuchnotizen und Gedichten, zusammen, dass ihr ein Kaleidoskop dieser taumelnden Jahre gelingt. Sie braucht dazu keinerlei Requisiten oder Kostüme. Ihre Wandlungsfähigkeit lässt all die Charaktere auf der Bühne des BKA auftauchen, die Protagonisten dieser Zeit waren. Dennoch wird es beileibe keine trockenen Geschichtsstunde sondern eine lebendige Show, die die Zeitgeschichte hauptsächlich im Spiegel seiner Lieder erscheinen lässt.
Wie aktuell dieser Abend trotz seiner historischen Zeitdokumente ist, beweisen ihre ausgewählten Beispiele. Da ist die Amüsierwilligkeit der Berliner, während das Elend in der Stadt unübersehbar ist. „Eurer Tänzer ist der Tanz“ heißt es da in einem Lied. Die Eventisierung der Stadt und Clubkultur hat also tiefere Wurzeln als die Nachwendezeit. Ihre Interpretation von „Raffke“ macht deutlich, wie einzelne schon damals in Krisenzeiten an der Stadt verdienten. Dass die Deutschen schon damals nicht mehr die alten Sünder sein wollten, lässt eine Konstante in der deutschen Geschichte erkennen, obwohl die wirklichen Jahre der Schande noch bevor standen. Die Beschreibung des Warenhauses Berlins und den damit einhergehenden Konsumrausch ist ebenfalls keine Erfindung der Ein-Euro-Läden und des Internethandels.
Ein paar Prisen Berliner Schnauze, die sich selbstironisch über den eigenen Mut zum Anderssein, zur Hässlichkeit und zur Unbeliebtheit lustig machen, dürfen nicht fehlen. Doch darunter mischt sich in der letzten Szene eine ganz konkrete Warnung: Nachdem Grajek von dem Schicksal des jüdischen Schauspielers Josef Schmidt berichtet hat, der es wagte Hitler in einem Chanson als verkappten Schwuler zu outen, wird die Bühne dunkel. Während die Pianistin Regina Knobel den Titelsong seines Filmerfolgs „Ein Lied geht um die Welt“ spielt, werden die Geräusche von donnernden Soldatenschritten immer lauter und übertönen zum Schluss jede Melodie. Es dauert lange, bis die Zuschauer*innen mit ihrem begeisterten Schlussapplaus zu wagen beginnen.
Birgit Schmalmack vom 2.11.20