Wo ist die Wirklichkeit?
Zwei verabreden sich für ein Wochenende, um dem Alltag für ein paar Tage zu entkommen. Sind sie Aussteiger, Aufsteiger, Ereknntnissucher oder Eskapisten? Sie begeben sich in die Einsamkeit der Natur einer Berghütte, um zusammen einen Gipfel zu besteigen. Sie wollen einen Berg bezwingen, um herabzuschauen, um einen Überblick zu erhalten, um Abstand zu bekommen, um festzustellen, wo sie stehen, um eine Wahrheit zu finden, um zu neue Einsichten zu kommen. Der eine ist Francesco Petrarca (Julius Feldmeier), die andere Brigtte Reimann (Lisa Hrdina). Die einzige Gemeinsamkeit, die beide haben, ist die, dass sie beide schreiben. Ansonsten trennen sie eigentlich Jahrhunderte, Sprachen und Weltanschauung. Petrarca hat mit seinem Bericht einer Gebirgsbesteigung von 1336, zur »Geburtsstunde des Alpinismus« beigetragen, Reimann hat das in der DDR gewachsene Genre der Ankunftsliteratur mitgeprägt. Ging es Petrarca um die Horizonterweiterung durch eine extreme Natur-Erfahrung, ging es Reimann um das Ankommen des Menschen im wahren Sozialismus.
Doch wie groß ist der Schock, als Brigitte erfährt, dass Francesco seinen Text bereit zuhause fertig gestellt hat und keinesfalls vorhat den Berg zu besteigen, um reale Erfahrungen zu machen. Brigitte sucht schließlich nach der Wahrheit und hat sich ganz im Sinne der Planwirtschaft vorgenommen, jeden Tag Zeilen zu verfertigen, und zwar immer dicht an der erlebten Wirklichkeit.
So wie Reimann in der DDR der Sechziger Jahre tatsächlich in die Werkshallen ging, um ganz nach bei den Arbeitern zu sein, so will sie auch hier von echte Erfahrungen erzählen.
Doch muss man dafür wirklich einen Berg besteigen? Lieber geht sie ohne Frankie in eine Bar und trifft dort auf die Bergnymphe namens Echo (Larissa Sirah Herden), die nicht nur einen silbernen Skianzug trägt, wunderschön singen kann, sondern auch sexy aussieht. Brigitte nimmt sie kurzerhand mit in die Hütte. Doch aus dem flotten Dreier wird nichts, so verzieht sich Francesco ins Bett und Brigitte und Echo bleiben am Lagerfeuer zurück, in trauter Zweisamkeit.
Als am nächsten Morgen beim Kaffeetrinken ein Moment der Erkenntnis folgt, trennen sich die Wege von Frankie und Brigitte. Während er in einsamer Selbstbezogenheit im Starren auf das eigenes Ego zu umwälzender Weisheiten kommen will, weiß Brigitte wieder, was zu tun ist: Sie will schreiben und zwar für die Welt. Sie weiß jetzt: "Die Wirklichkeit ist wie ein Brief, der an uns gerichtet ist." Doch die Frage ist nur: Will man ihn öffnen?
Zum Schluss steht sie wie Petrarca zu Beginn auf einem kleinen Findling auf dem völlig flachen Tempelhofer Feld. Man braucht keinen Berg zu besteigen um den Überblick zu bekommen. Es reicht ein kleiner Felsbrocken, wenn man in der ostdeutschen Tiefebene ist.
Marlene Kolatschny und Jan Koslowski haben für ihre Produktion in Kooperation mit dem Ballhaus Ost beide Persönlichkeiten für ein Weekend zusammen treffen lassen. Mit Textausschnitten aus Petrarcas Text und Reimanns Büchern haben sie ein zeitgeistliches Theaterstück arrangiert, das sie auf der Ballhaus-Bühne inszeniert und gefilmt haben.
Der daraus entstandene Video gaukelt weder vor, ein Film noch ein Theaterevent zu sein. Er balanciert geschickt auf der Grenze zwischen beidem. Das Video, das auf Vimeo zum Download angeboten wird, führt vor, was mit Theatermitteln für herrlich verrückte, verspielte Gedankenverrenkungen möglich sind, wenn man ein Thema, drei tolle Schauspieler*innen und zwei wortakrobatische Autor*innen zur Verfügung hat. Nun fehlt nur noch eines: Das Live Miterleben dieser Spielfreude.
Birgit Schmalmack vom 24.1.2021