Immer noch Sturm, Thalia

Sturm der Geschichte

Der Sturm der Geschichte fegt über das Jaunfeld in Kärnten hinweg. Er hat nicht nur die Apfelbäume der Obstgärten sondern auch die Sprach- und Kulturwurzeln der Menschen vernichtet.
Der uneheliche Sohn (Jens Harzer) ist zurückgekehrt zu seinen Ahnen und hält Zwiesprache mit den längst Verstorbenen. „Ihr lasst mich nicht in Ruhe.“ Er will um seine Wurzeln wissen. Gerade weil er weiß, dass es das alles nicht mehr gibt, will er die Geschichte, ihre Geschichte ergründen. Es ist eine verlorene Zeit, in die er sich zurück begibt. Es ist die Zeit seiner Mutter (Oda Thormeyer), die mit drei Brüdern und einer Schwester auf dem Jaunfeld aufwuchs. Die Familie sprach ihre eigene heilige Sprache, kochte ihre eigenen leckeren Gerichte, sang ihre eigenen traurigen Lieder. Als der eine Bruder (Tilo Werner) von der Obstbaumschule nach Hause kam, hatte man einen Grund mehr stolz zu sein: Gregor gründete mit seinem Wissen einen Obsthof. Er baute mit seiner Mosterei einen Sippentriumphbogen. Doch dann kam der Krieg. Die drei Brüder wurden eingezogen. Der Jüngste (Heiko Raulin) fiel, der Mittlere (Hans Löw) hielt sich mit Liebeleien bei Laune und der Obstbauer ging zu den Partisanen in die Wälder, wie es schon die zweite Schwester (Bibiana Beglau) gemacht hatte. So gab es wieder Anlass stolz auf die Familie zu sein: Sie kämpfte gegen die Unterdrückung der Deutschen.
Doch der uneheliche Sohn ist der Familienfeind, das vaterlose „Affenkind“. Die Mutter hatte sich während des Krieges mit einem Reichsdeutschen eingelassen. Die Kriegsbraut ist hin- und hergerissen zwischen Liebe und Hass auf ihren kleinen Mischling. Zu wilden Trommelschlägen läuft sie im Kreis herum und rennt gegen Wände.
Der Sohn ist immer der Außenseiter geblieben. So sitzt er am Rande auf seinem Stuhl und betrachtet seine Vorfahren aus der Distanz. Er will nicht nur ein Volk des passiven Leidens und des stummen Erleidens erkennen. Er sucht nach Formen des Aufbegehrens. Er will an den Widerstand der Kärtner Slowenen gegen den Einmarsch der Hitlerdeutschen erinnern. „Doch was hat uns der Frieden gebracht?“, fragt er sich am Ende. Eine Volksgruppe trotzte zwar bis zur Aufgabe der Reichsdeutschen, aber nur um sich dann zuerst den Engländern und dann den Österreichern unterordnen zu müssen - ohne Recht auf eigene Sprache und Kultur.
Peter Handke idealisiert in der autobiographisch eingefärbten Geschichtsschau die Geschichte seiner eigenen Familie, in der dieses Aufbegehren fehlte. Er schreibt ein Stück über die Kraft der Sprache, der Identität, der Kultur und der Natur. Er erzählt über die zerstörerische Wirkung der Geschichte, des Krieges und der Macht. Und er macht gleichzeitig die Enge, die Beschränktheit und die Intoleranz der Sippe deutlich.
In diesem Spannungsfeld versucht Dimiter Gottscheff wohl wissend um die Diskussion anlässlich Handkes Parteinahme für die Serben jede Überspitzung in seiner Inszenierung zu vermeiden. Er gibt dem Text viel Ruhe, Stille und Zeit um sich zu entwickeln. So fallen die grünen Papierblätter über viereinhalb Stunden leise auf den Bühnenboden und bedecken ihn mit immer neuen Erinnerungsschnipseln. Wo die Wahrheit in diesen Erinnerungen liegt, ist auch am Ende nicht klar. So bleibt die Geschichtsschreibung eine ganz persönliche Angelegenheit jedes Einzelnen.
Gotscheffs Inszenierung bleibt sehr texttreu. Ein paar mehr Verschlankungen
und eine höhere Variationsbreite der Regiemittel hätten dem Abend und der Aufmerksamkeitskurve sicher gut getan. So ließen sich viele Ermüdungserscheinungen in den Zuschauerreihen beobachten. Ein größerer Kontrast zur ersten Premiere dieser Spielzeit „Merlin“ lässt kaum vorstellen: Dort überraschende, spielfreudige, energiegeladene Ideen- und Bildervielfalt und hier dort ernsthafte, stille Beschränkung und Konzentration. Poesie und Kraft strahlen beide aus, doch der zusätzliche Unterhaltungswert ist bei Merlin eindeutig höher.
Birgit Schmalmack vom 20.9.11

Zur Kritik von

Stern 
Abendblatt (Salzburg) 
Zeit 
Abendblatt (Hamburg)  
SHZ 

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