Textversion
Sie sind hier: Startseite

Die totale Institution

Heimweh, thalia Foto: Krafft Angerer


Die Wände sind durchsichtig, die Räume weiß gefliest, die Betten eng zusammengestellt. Alles wirkt kalt. Es gibt keine Möglichkeit für Privatsphäre, aber auch keine zur Gemeinschaftsbildung. In diese Umgebung wurden von 1950 bis Ende der 80ziger Jahre geschätzte 8 Millionen Kinder verschickt, angeblich zur Erholung, in Kinderheime in naturnaher schöner Kurumgebung. Meist für 6 Wochen ohne jeden Kontakt zu ihren Eltern. Wenn sie wieder zurück in ihre Familien kamen, waren nicht wenige von ihnen verändert, verstört und alles andere als gesundheitlich und psychisch erholt. Doch die "Tanten" in den Heimen hatten sie unter Androhung unschöner Konsequenzen zur Verschwiegenheit verpflichtet und so schwiegen sie und versuchten zu vergessen und zu verdrängen.
Im Thalia Theater hat sich nun der Regisseur Gernot Grünwald diesem lang verschwiegenen Teil der bundesdeutschen Geschichte gewidmet, das erst langsam aufgearbeitet wird. Viele der Kinder waren noch im Vorschulalter, so dass ihre Erfahrungen mehr im Unterbewusstsein und in ihrem Körpererinnerungen gespeichert sind als der Versprachlichung zugänglich. Grünwald lässt in dem der ständigen Überwachung freigegebenen Bühnenhaus die drei Betreuenden den Sprachanteil (Sandra Flubacher, Oliver Mallison, Meryem Öz) übernehmen. Die Kinder werden von Seniorinnen gespielt, die zum Teil selbst verschickte Kinder waren. Ihre faltigen Gesichter verschwinden hinter Kindermasken mit riesigen groß aufgerissenen Augen, die hilflos und still alles ertragen müssen, was die Erwachsenen ihnen hier im Namen der Erziehung antun werden. Ein wunderbar passender Kunstgriff, um die Auswirkungen, die sich in die Körper bis ins hohe Alter einschreiben, auszudrücken. So bleiben die Seniorinnen stumm wie die Kinder damals. Akribisch werden die Tagesabläufe nachgezeichnet. Vom Aufstehen, gemeinsamen Toilettengang, Gemeinschaftsdusche, Tanz, Singkreis, Zwangsernährungsprogrammen bis zum Zubettgehen. Strafen für „unartige“ Kinder, die sich zu Heimwehkranken und Bettnässern entwickelten, werden nachgespielt, von den Kameras erbarmungslos auf die zwei Videoleinwände links und recht vom Bühnenhaus projiziert.
Die Unmenschlichkeit der Betreuenden im Umgang mit den Kindern macht fassungslos. Wie konnte sich diese Praxis bis in die achtziger Jahre erhalten? Wo liegen die Gründe für diese inflationär betriebenen Kinderkurverschreibungen? Ist sie etwa eine unaufgearbeitete Erziehungsfortschreibung aus der Nazizeit wie die Zitate aus Johanna Haarers Buch "Die deutsche Mutter und ihr erstes Kind", ein 1934 erstmals erschienener Ratgeber, nahe legen? Oder wollten sich die zwanzig bis dreißig Kinderkurheime pro Kurort, die unter den Nazis zur Formung des Volkskörpers entstanden waren, nur weiter finanziell am Leben erhalten? Und wussten eine Überprüfung durch die Geldgeber konsequent zu verhindern? Genaues erfährt man während des Theaterabends dazu nicht, aber die Autorin Anja Röhl, deren Recherchen als Grundlage für diesen Theaterabend dienten, steht nach jeder Aufführung dankeswerter Weise einem Publikumsgespräch zur Verfügung und beantwortet alle Fragen zu diesem leider noch so unbekannten Themengebiet mit großer Geduld und Anteilnahme.
Birgit Schmalmack vom 10.10.22