Zur Kritik von

Tagesspiegel 
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Die Ungehaltenen



Pommes plus Chlorgeruch

Elyas trifft auf dem Weg zum schwarzen Meer auf Mustafa (Volkan Türeli) aus Bochum. Dieser kann sich zwar begeistern für den schönen Blick über die Landschaft, doch eines vermisst er seit seiner Abschiebung aus Deutschland sehr: den Geruch von Pommes rot-weiß an einem Sommertag im Freibad. Elyas verspricht ihm zu Ehren bei seiner Rückkehr nach Berlin einmal Pommes rot-weiß im Prinzenbad zu essen.
Elyas hat sein Jura-Studium in Deutschland abgebrochen und ist in die Türkei aufgebrochen. Nicht nur um seiner Identität auf die Spur zu kommen sondern auch um die schöne Deutsch-Türkin Aylin (Elmira Bahrami) wieder zu sehen, die in Istanbul eine Stelle als Ärztin antreten will. Doch anders als sie hat Elyas noch gar keinen Plan und so reist er bald alleine weiter ans Schwarze Meer, um das Grab seines Vaters zu besuchen, der kurz zuvor an Krebs gestorben ist und sich unbedingt in seinem alten Heimatdorf begraben lassen wollte.
Migration mache krank, so ist die Überzeugung des Regisseurs Hakan Savas Mican, der den Roman von Deniz Utlu für das Studio des Maxim Gorki Theaters in Szene gesetzt hat. Doch nicht nur die Eltern von Elyas fehlte zeit ihres Lebens in Deutschland etwas sondern sie gaben auch der nächsten Generation dieses Gefühl der Unbehaustheit mit auf den Weg. Sie konnten ihren Kindern kein Vorbild sein, konnten ihnen nicht den Halt geben, den sie brauchten. So staut sich in Elyas eine Wut an, für die er keine geeignete Ausdrucksweise findet. Weder Seitenspiegel von parkenden Autos in Kreuzberg einzuknicken noch das eifrige Lernen für die Jura-Prüfungen scheinen adäquate Mittel zu sein, um seinen Ärger über die Verbreitung von gentrifizierenden Hipstern und von Rollkoffer ziehenden Touris in seinem Kiez zu verarbeiten.
Mican hat mit Mehmet Ateşçi den perfekten Hauptdarsteller für den Identitätssuche nach den vermeintlichen Wurzeln gefunden. Ateşçi schafft es in Sekundenschnelle vom wütenden Kreuzberger Jungen zum schüchternen Verliebten, vom tanzenden Bollywoodstar zum Sezen Akzu imitierenden Sänger, vom liebevollen Mutter-Sohn zum rebellierenden Vater-Sohn zu mutieren. Ihm nimmt man in jedem Moment die Sehnsucht nach einem Ort des Gehaltenseins, die Hoffnung, die Zweifel, die Wut und die Verzweiflung ab. Zum Schluss kehrt er nach Berlin zurück; seine Jura-Kenntnisse werden gebraucht. Er muss seinem Onkel (Mehmet Yilmaz) helfen, der aus seiner Kreuzberger Wohnung vertrieben werden soll.
Mican gibt Ateşçi drei Musiker und Schauspieler vor der langer Sofakissenreihe im Studio mit an die Seite. So können sie mit Gitarre, Geige, Saz und Schlagzeug jederzeit die richtige Soundtrack zu ihrem Road-Bühnenstück zwischen Berlin-Istanbul und dem schwarzen Meer erzeugen. Songs wechseln mit kurzen Szenen, Monologe wechseln mit Filmaufnahmen, die auf die breite Rückwand projiziert werden. Ein toller stimmungsvoller Abend, der die Einfühlung in die Lage der "Ungehaltenen" in konzentrierter atmosphärischer Dichte ermöglichte.
Birgit Schmalmack vom 17.4.17