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Voller Einsatz im Lebenskasino

Gazino Berlin Heimathafen

Heftig gebärend steht die Frau oben auf dem Turm aus Gerüststangen. Dann wirft sie ihre Topfperücke herunter und unten plumpst ein Mädchen im hautfarbenen Bodysuit und einer dicken Schnur, die am Bauch befestigt ist, auf den Boden. Das Mädchen ist geboren. Aus Anatolien kommen ihre Vorfahren. Als sie in der Schule ihren Geburtsort nennen soll, bekommt sie zu hören, dass sie eine Kurdin sei und muss ab sofort in der letzten Reihe sitzen. Sie wächst auf mit einem Großvater, der ihr Säbel schwingend die Regeln des weiblichen Lebens erklärt. Woraufhin sie ihm kurzerhand die Waffe aus der Hand nimmt und selbst damit herumfuchtelt. Sie und sich von ihrem Ehemann schlagen lassen! Niemals! Ihre Oma kann sie alles fragen. Woran merkt man, dass man stirbt? Kommt meine Mama ins Paradies? Aberglaube mischt sich mit Alltagsphilosophie und Lebenserfahrungen mit Widerständigkeit. Ihre Eltern schwanken zwischen Erotikattacken und Eifersuchtsdramen. Da der Vater in ständigen Geldnöten ist, holt er sich seine Trosteinheiten häufig bei anderen Frauen. Immer wieder dreht sich daher das Gerüstkarussell auf der Bühne und es heißt wieder einmal: Umziehen! Als sie nach etlichen Stationen in Istanbul ankommen, lernt das junge Mädchen neue Freiheiten kennen. Sexualaufklärung in der Schule und Rauchen hinterm Haus. Doch sie will mehr: Sie will nach Deutschland. Ausgerechnet einer Prostituierten wird sie für die Reise ins Gastarbeiterland anvertraut.

Bewusst überzeichnet Regisseurin Göksen Güntel ihre Figuren. Schon in der ersten Szene ist klar: Sie will hier keine Pseudorealität auf der Bühne erschaffen sondern durch die humoristische Distanz die Zuschauer*innen zu Reaktionen animieren und so zu einem Teil der Aufführung machen. Hier gibt es kein Schwarz oder Weiß, kein Rückständig oder Modern, kein Oben oder Unten. Märchenfiguren mischen sich mit Sprichwörtern, Koransprüche mit Schulwissen. Ein buntes Durcheinander entsteht auf der Bühne, eine wirbelnde laute Mixtur als Abbild eines Lebens, das sich in einer ständigen Veränderung befindet.

Um das Einfühlen von Anfang an zu erleichtern, sitzt ein Liveorchester mit auf der Bühne. Die stimmgewaltige Diva Aziza A. erreicht mit ihren schmalzenden und schmalzigen Hits die Zuschauer*innen sofort. Es wird geklatscht und mitgesummt. In den Soundtrack aus orientalischen Arabesken mischten sich passend zur Handlung deutsche und amerikanische Schlager. Doch Regisseurin Güntel weiß auch die besinnlichen Momente zu inszenieren. Immer wieder gibt sie Özlem die Gelegenheit inne zu halten und sich ihre Gedanken über dieses verrückte Leben zu machen.

Der Roman von Emine Sevgi Özdamar „Sonne auf halbem Weg“ bietet eigentlich Stoff für vier Teile. „Gazino Berlin“ Teil 1 erzählte die erste Hälfte bis zur Özlems Ausreise nach Deutschland. Man darf gespannt sein auf den zweiten Teil, der dann in Berlin spielt.

Birgit Schmalmack vom 30.9.20