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Die gelbe Tapete

Die gelbe Tapete mit Judith Engel, Tilman Strauß u Foto: Stephen Cummiskey



Irrewerden am Glück

So sieht Glück aus: Ein verwackeltes Amateur-Video des Vater zeigt die junge Mutter mit ihrem Baby auf dem Arm, wie sie alle drei Witze machend und lachend durch die Sonnen beschienenen Straßen der Großstadt ziehen.
Doch der Schein täuscht. Das Glück ist nur gespielt. Anna geht es nicht gut, sie braucht Erholung. Ihr Mann Christopher (Timan Strauß) bringt sie in ein Haus auf dem Lande. Das Zimmer hat eine gelbe Tapete. Schon bald meint Anna hinter der Tapete eine eingesperrte Frau zu erkennen. Sie wird für sie zum Sinnbild ihrer eigenen Gefangenschaft. Wenn sie ihre Botschaft entschlüsselt, so wird das auch ihre Befreiung sein, so glaubt sie.
Die Regisseurin Katie Mitchell hat den Text von
Charlotte Perkins Gilmann aus dem 19 Jahrhundert ins heutige Berlin geholt. Sie gibt den Kopfbildern Annas reale Gestalt, und zwar im wortwörtlichen Sinne. Auf der Bühne der Schaubühne sieht man ihnen beim Entstehen live zu. Denn Mitchell zeigt das Making Of ihrer theatralisch-filmischen Umsetzung. Zwei Nachbauten des Zimmers mit der gelben Tapete in zwei unterschiedlichen Stadien sind neben zwei Tonstudios und den offen agierenden Kameraleuten stets einsehbar. Das verleiht den Vorstellungen Annas raffiniert eine zu gleichen Teilen profane und metaphorische Ebene. Der Zuschauer wird beim Entschlüsseln der Darstellungstricks hineingezogen in Annas Kopf. Er erlebt das Entstehen ihrer Bilder mit. Sie werden auch für ihn ganz real, so wie für Anna. Wenn sie sich eine Frau hinter der gelben Tapete imaginiert, dann huscht als Projektion eine gleichzeitig aufgenommene Frau (Luise Wolfram) über die Tapete. Durch transparente Tapetenfilter gefilmte Einstellungen scheint eine Frau mit Anna zu sprechen. Bis Anna schließlich die Tapete von den Wänden kratzt und sie als tatsächliche Person Anna zur letzten Befreiung begleitet.
Dass dieses Unterfangen von Katie Mitchell in keiner Sekunde unglaubwürdig oder überdreht wirkt, ist auch der wunderbaren Schauspielerin Judith Engel zu verdanken. Obwohl sie hier fast ganz ihrer Stimme beraubt ist, spricht ihr gejagtes, verängstigtes, verweintes, triumphierendes und verhuschtes Gesicht Bände. Engel schwebt durch die Räume, immer auf der Flucht, auf der Suche und nicht ganz von dieser Welt. Sie scheint förmlich in die Tapete hineinzukriechen. Mitchell hat ihren Körper klug von ihren Gedanken abgetrennt. Ursina Lardi verleiht ihnen sichtbar, einfühlsam und punktgenau in einem der Tonstudios ihre Stimme.
Annas Irrewerden an ihrem Mittelstandsglück der schönen Kleinfamilie interessiert, irritiert und verführt nicht zuletzt auch durch den perfektionierten Entstehungsprozess auf der Bühne. Doch er lenkt nicht von Annas Abgleiten aus der Realität ab, sondern intensiviert das nur seine soghafte Spannung.
Was von Perkins Gilmann einst als feministischer Text zum Aufbegehren gegen die Zuschreibungen der Ehefrauenrolle gedacht war, scheint heute überholt zu sein. Doch Mitchell stellt die These auf, dass auch der Zwang zum vorprogrammierten Glück, wenn man scheinbar alles richtig gemacht hat – die schöne Altbaugroßstadtwohnung, die bildungsbürgerliche Einrichtung, der gute Job, der liebevolle Partner, das erste Kind errungen hat – ebenso große Versagensängste produzieren kann. Der zunehmende Verbrauch von Antidepressiva und die stetige wachsende Zahl von Burnout-Patienten – all das scheint ihr recht zu geben. Ein faszinierender Theaterabend!
Birgit Schmalmack vom 2.4.13