Kinder der Sonne
Leiden auf hohem Niveau
Nur ein Labyrinth aus dünnen Stangen halten das Haus des Protassows aufrecht. Wände gibt es hier nicht. Die Bewohner und Besucher rauschen zur einen Seite hinein und zur anderen wieder hinaus. Geborgenheit und Halt sucht man hier vergeblich. Für das offensichtlich großzügige und offene Haus ergibt das die Atmosphäre eines Bahnhofs.
Der kluge Pawel (Ulrich Matthes) verflüchtigt sich, sobald jemand mit ihm reden will. Er hat Wichtigeres zu tun. Seine Forschung für „euch alle“ wartet auf ihn. Für seine schöne Frau Jelena (Nina Hoss) fällt da keine Aufmerksamkeit mehr ab. Auch alle anderen menschlichen Kontakte überlässt er gerne ihr. Die Hausbewohner sind ihm schlicht zu anstrengend.
Da ist Lisa (Olivia Gräser), die schwere traumatische Erlebnisse zu verarbeiten hat. Sie verfällt immer wieder in depressive Phasen. Boris (Alexander Khuon) ist ein Zyniker, der in allem Menschlichen in dieser Welt nur eine Ansammlung des Schlechten erkennen kann. Boris erkennt in Lisa eine verwandte Seele. Lange Zeit wehrt sie sich jedoch gegen eine Verbindung, weil sie Angst vor der Nähe hat. Erst als es schon zu spät ist, willigt sie ein. Der frei flotierende Künstler Dmitrij (Sven Lehmann) hat sich in Irina verliebt und bietet ihr den gemeinsamen Ausbruch an. Im Gegenzug verliebt sich die reiche Witwe Melanija (Katrin Wichmann) in Pawel.
Pawel irritieren alle diese zwischenmenschlichen Schwankungen. Er will feste stabile Verhältnisse, um sich ganz seinen Forschungen widmen zu können. Doch gerade von ihm wünschen sie sich Rat und Zuspruch. Von ihm erwarten sie Größe, Inhalt und Substanz. Doch er verscheut sie wie lästige Fliegen, um sich schnell wieder an seine Papiere zurückzuziehen.
Matthes gibt ihm genau die richtige Mischung aus gutmütiger Nonchalance, Überheblichkeit, Gleichgültigkeit und flüchtiger Zugewandtheit. Nina Hoss nimmt man leicht die umworbene und dennoch unverstandene Frau ab, die zu stolz ist, um um Aufmerksamkeit zu betteln und gleichzeitig vor entschiedenen Schritten zurückweicht. Oliva Gräser spielt sich als Lisa die Seele aus dem Leib. Sie ist eine grandiose Verkörperung der tief gebrochenen jungen Frau. Sven Lehmann spielt den Künstler in einer interessanten Mischung aus versponnenen, emotionalen und pragmatischen Anteilen. Khuon ist ein wunderbarer impulsiver, von der Banalität des Lebens enttäuschter Zyniker. Katrin Wichmann ist die perfekte Besetzung für die Außenseiterin in diesem pseudointellektuellen Kreisen. Juwelenbehangen bleibt die Bodenständige eine Beobachterin am Rande, die im Augenblick der Katastrophe schlicht in ihr Butterbrot beißt.
Kimmig hat alle russischen Attribute aus dem Text vom Maxim Gorki gestrichen und ihn ganz in die Mitte der gutbürgerlichen Welt von heute geholt. Alle diese Typen, die stetig um ihre eigene Befindlichkeiten kreisen, stammen nicht mehr aus dem vorrevolutionären 19. Jahrhunderts Russlands sondern aus heutigen deutschen Großstädten. So fällt die Distanz zwischen Bühne und Zuschauerraum weg und die Selbsterkennungsquote ist hoch. Kimmig nutzt den Text auch um auch die komischen Momente auszuloten. Manchmal so sehr, dass die Egodramen ins Boulevardeske abgleiten. Um so sie der Lächerlichkeit preiszugeben, ist das nur konsequent.
Birgit Schmalmack vom 11.10.11
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