"The Reversed Alchemist" + "(in)Visible", Uferstud
Mit allen Sinnen?
Wie ergründet man den Zusammenhang aller Dinge? Die Choreographin Ixchel Mendoza Hernández versucht mit ihrer neuen Inszenierung "The Reversed Alchemist: Figure 1-3" diesen Geheimnissen auf die Spur zu kommen. Doch obwohl sie in dem Titel Bezug zur Alchemie Bezug nimmt, geht es ihr nicht um die materielle Dekonstruktion sondern um die der Wahrnehmung. In drei Tableaus widmet sie zunächst der Entstehung der Kleinstteilen der Kommunikation und der Wirklichkeitserschließung. Buchstaben und Zahlen müssen erschaffen werden bevor im zweiten Teil die Bilder entstehen können. Für Hernandes sind das hauptsächlich Bilder von Frauen, die Geschichte geschrieben haben. Im dritten Teil werden die Auswirkungen dieser Wirklichkeitsbestimmenden Faktoren auf heutige Gesellschaften gezeigt: Die Reizüberflutung in der heutigen Informationsgesellschaft bestimmt heute die Wahrnehmung. Während Hernandez in die ersten Teilen fast statisch mit viel Text ihre Botschaft vermittelte, lässt sie nun die Video- und Soundinstallation sprechen und spult dazu ihre eng begrenzten Bewegungen ab. Sie zeugen von Ausgeliefertsein und Ausbruchsversuchen, äußerer Begrenzung und lächelndem Einverständnis, Wiederholung, kurzfristigem Aufbegehren und wenig eigenem Spielraum. Die Botschaft, die Hernandez vermitteln möchte, wird in ihrer Arbeit sehr deutlich. Sie vermittelt sie aber mehr durch ihre sorgsame Textarbeit als durch ihre Choreographie. So bleibt die sinnliche Qualität ihrer Performance begrenzt.
Die zweite Performance an diesem Abend Im Rahmen von Open Spaces/Sommer Tanz 2019 gelingt das umso besser. Der Regisseur Jess Curtis lässt mit "(in)Visible" sowohl Sehende wie Sehbeeinträchtigte und Blinde gleichermaßen einen Abend erleben, der einen Sog auf allen Ebenen erzeugt. Die sieben Minuten völliger Dunkelheit verführt viele Zuschauer dazu, auch danach ihre Augen geschlossen zu lassen und sich ganz auf ihre anderen Sinne zu verlassen. Damit erhalten sie die Möglichkeit, kurzfristig in die Welt von Seh-Eingeschränkten einzutauchen. Sie lernen zu hören und zu spüren.
Zunächst sind nur Stimmen und Schritte zu hören. "Tap-Tap". "Hier bin ich." "Hier stehe ich." Dann laufen die Performer durch den Raum. Sie stoßen durch die Flittervorhänge, die in dem Raum verteilt aufgehängt sind. Später werden sie mit ihnen wie mit Fahnen große Schwünge machen, die Zuschauer sanft überstreichen und so Wind und flirrende Geräusche erzeugen. Als zwei Performerinnen in der Mitte zu den Mikros greifen, verraten sie sich und den Zuschauern all die Sachen, die man sonst nur denkt und selten ausspricht.
In der nächsten Szene werden die Warnungen, die Jess Curtis vor der Performance mehrfach wiederholte, verständlich: Die Zuschauer, die sich in die Mitte des Bühnenraums wagten, müssten mit Berührungen durch die Performer rechnen. Sie werden stets angekündigt. "Ich lege meinen Kopf in den Schoß des Subljektes." "Ich umfasse die Beine des Subjektes." "Ich stelle mich auf die Oberschenkel des Subjektes." Doch bevor angekündigt wird: "Ich stecke meine Zunge in das Ohr des Subjektes", wird noch einmal daran erinnert, dass ein Stopp des Subjektes jederzeit für ein Ende der Berührungen sorgen werde. Doch die "Subjekte" durchleben die liebevollen Berührungen, bis die Performer ihr Ende beschließen.
Curtis gelang hier mit seinen sehr präsenten Performern eine Arbeit, die geschickt mit den Erwartungen der Zuschauer spielte, sie zunächst mit fast banalen Situationen köderte und in Sicherheit wiegte, um sie zu überrumpeln und dann mit neuen Erfahrungen zu konfrontieren - ganz so, wie es Menschen, die nicht über alle Sinne verfügen, ständig geschieht.
Birgit Schmalmack vom 22.7.19