Vor Sonnenaufgang, DT



Sich einrichten im Fortschritt der Verminderung

In antiutopischen Zeiten wird das Individuum auf sich selbst zurückgeworfen. Die gesellschaftlichen Entwürfe fehlen. Jeder muss sich selbst am eigenen Schopfe aus der Misere ziehen. Nur die eigene Leistung zählt. Weder die Gesellschaft noch die Familie bieten einen sicheren Rückzugsort. So stehen die Personen in der Ewald Palmetshofers Neubearbeitung von Gerhardt Hauptmanns «Vor Sonnenaufgang» ganz alleine vor ihren Problemen. Eine gesellschafts-politische Lösung ist nicht mehr in Sicht. Regisseurin Jette Steckel stellt sie konsequenter Weise in ihrer Inszenierung auf einer sich ständig rotierenden Drehbühne (Bühne: Florian Lösche) wie auf einem Präsentierteller aus.
Ganz zu Beginn steht Helene (Maike Knirsch) ganz alleine im Gegenlicht auf dem Drehteller. Weinen könnten sie schon lange nicht mehr. Vielleicht sei es auch besser so, verkündet ihre Stimme aus dem Off.
Dann bevölkert sich die Drehbühne. Zunächst sieht alles noch einem fast harmonischen, familiären Beisammensein aus. Martha (Franziska Machens) erwartet ihr erstes Kind. Ihre Schwester Helene ist extra für die Geburt in ihr Heimatdorf zurückgekommen. Ihr Mann Thomas (Felix Goeser) wird die Firma ihres Vaters (Michael Goldberg) übernehmen. Doch dann mischen sich die ersten Streitereien in das Familiengeplänkel. Martha trägt offensichtlich nicht nur schwer an ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft. Alles Leid der Welt scheint sie mit ihrem Bauch auf die Erde hernieder zu drücken. Weder ihre Eltern noch ihr Mann können es ihr recht machen. Dass der Seniorchef dem Alkohol über die Maßen zuspricht, lässt sich bald nicht mehr verbergen und sorgt für hörbare Auseinandersetzungen zwischen den Eheleuten. Dass Helene mit ihrer Ich-AG gescheitert und ihre Wohnung aufgeben musste, lässt auch sie auf der Suche sein. Da steht Alfred Loth (Alexander Simon ) plötzlich in der Tür.
Er will seinen alten Studienfreund Thomas besuchen. Er will wissen, ob aus dem Freund tatsächlich ein Feind geworden ist. Teilten sie doch damals nicht nur ein winziger Stundentenzimmer sondern auch Ideen.
Palmetshofer stellt dem in eine Industriellenfamilie einheiratenden, anpassungswilligen Emporkömmling Thomas den Links- Intellektuellen Alfred gegenüber, der sich auf keine Kompromisse einlassen will. Dieser ahnt zwar schon, dass sein Engagement für die früheren Ideale wirkungslos bleiben wird, erlaubt sich aber keinerlei Pragmatismus, der zumindest für kurzfristigen Erfolg sorgen würde. Ganz in Gegensatz zu Thomas, der seine Ideale vom eingeschlagenen Weg abhängig macht. Wenn dabei eher rechte Ideen gefragt sind um bei den Mehrheit anzukommen, kann er diese problemlos abliefern.
Um diese beiden zentralen Figuren ranken sich die übrigen Familienmitglieder. Die Frau des Seniorchefs (Regine Zimmermann) tat alles dafür, um die Firma in ihrer Position als perfekte Chefgattin am Laufen zu halten. Martha hofft mit der Geburt des Babys auch sich selbst als perfekte Ehefrau und Mutter zur Welt zu bringen. Helene sucht nach ihrem beruflichen Misserfolg auf ganzer Linie umso dringender nach einem Mann, der ihr zu der Aufmerksamkeit verhelfen kann, die sie sich erhofft. Dass sie sich dafür ausgerechnet den Dauersingle Alfred ausgeguckt hat, verheißt nichts Gutes.
Jette Steckel legt in der kurzen Zeitspanne eines Tages und einer Nacht bis zum Sonnenaufgang die Seelenabgründe ihrer Charaktere schonungslos blpß. Die textliche Vorlage von Palmetshofer liefert ihr dafür reichlich Stoff, in einer Sprache, die zum Teil weit über das Interagieren der Personen hinausweist. Das Stück ist reich an Fragestellungen aktueller Problemlagen wie das Aufkommen rechter Parteien, die Sprachlosigkeit, Patchworkfamilien, Depression, Bindungsunfähigkeit oder das Fehlen von Idealen. Durch die schlichte Form, die Steckel für diese Vielzahl an kleinen Dramen wählt, gibt sie den Personen und dem Text genügend Raum zum Atmen. Keine Minute dieser zweieinhalb Stunden ist zu lang. Vielschichtiger Text, fokussierte Umsetzung, hervorragende Schauspieler, tolles Theater!

Birgit Schmalmack vom 11.10.18
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